Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
Vom Netzwerk:
die Erinnerung daran; man weiß, dass sich nach jedem Akt des Erinnerns nicht das ursprüngliche Ereignis, sondern die gerade erinnerte Version in der Gedächtnis-Festplatte des Hirns neu einschreibt, weshalb also nach entsprechend vielen solchen Überschreibungen auf einmal eine klare und eindeutige Erinnerung an etwas vorhanden ist, das niemals stattgefunden hat. Und so wurde aus einer Geschichte, die ich selbst erfunden habe, wie ich jetzt feststellen musste, eine reale Mutter-Wahrnehmung, eine richtige, echte Erinnerung an eine kalte, herzlose Kindheit. Eine komplette Erinnerung, die nicht nur die Fakten und das Rationale betrifft, sondern auch das Fühlen und Spüren und die Gerüche. Eine Erinnerung, die gleich die Nerven und Muskelfasern und Sinnesorgane zittrig macht, sobald das Erinnern an das Erfundene anhebt, eine Erinnerung, die nicht nur mit dem Gehirn erinnert, sondern mit Haut und Haar und Muskeln und Schleimhäuten, mit Herz und Bauch und Schwanz also.
    In der Nacht, sie war schon lange im Schlafzimmer verschwunden, sah ich im Fernsehen einen kurzen Beitrag über neue bildgebende Hirnstrommessverfahren und daraus resultierende Einsichten in Ablauf und Funktionieren von Denken und Erinnern, darüber, wie sich Sprache kristallisiert zu Schrift, wie sich Sprache und Bild manifestieren in externen Zeichen, ohne die wir nicht denken können, wie alles, was ist, nur deshalb ist, weil es Darstellungen provoziert. Ausreden, Ausreden, Ausreden, schnurrte die Teufelseiche dazu, Ausflüchte, Ausflüchte, immer lässt du dein Hirn auf Hochtouren rattern mit lauter Hirnzeugs, kannst dich so drücken, wovor drücken?, schnaubte ich, Klagegesang, blökte die Eiche, und: Nach dieser Antwort auf seine Fragen bleibt dem Sohnemann nur noch klagen. Dann machte sie, dass ich mich auf der abgewohnten Fernsehcouch im elterlichen Wohnzimmer wie der unverstandene, ungeliebte Teenager von einst fühlte und ihr schließlich zustimmte, als sie mir in ausufernden Dialektgstanzln auseinanderdividierte, dass es nicht galt, um den gestorbenen Severin zu trauern oder die verschwundenen Romanen oder um Kohls untergegangene Indianervölker oder den enttäuschten, entzauberten Wunderzauberer May.

76
    Am Ende wieherte Bodinger noch einmal, so laut, dass ich Angst bekam, die Patienten draußen im Wartezimmer könnten ihn hören und die Ordinationshilfe würde hereinkommen und würde ihn sehen in seiner verzweifelten Aufbäumung, und mich, wie ich zusammengesunken vor ihm hockte wie früher in den engen Beichtstühlen der Zisterzienser und schwächlich und unentschlossen versuchte, mit ihm mitzuhalten.
    Du musst abnehmen, hatte er gesagt, mich dabei gemustert mit spöttischem Blick, so rank und schlank wie damals bist du leider nicht mehr, feixte er, du auch nicht, sagte ich, dann schwiegen wir einen Moment und dachten an das Fett auf unseren Hüften und an die Schwabbelbäuche, über die wir gelacht hatten, solange es nicht die eigenen gewesen waren.
    Wir plauderten ein wenig über meine Arbeit, ich holte aus zu einer Erklärung der vielfältigen Zusammenhänge zwischen der Römerherrschaft in Ober- und Niederösterreich und der Kolonialisierung Nordamerikas und der Weltsicht der klassischen Antike, die uns im Humanistischen Gymnasium vermittelt worden war. Zusammenhänge sehen ist Wahn, sagte Bodinger. Alles hängt letzten Endes irgendwie zusammen, sagte ich. Beim Phänomen des Bestehens auf Zusammenhänge in Zusammenhängen, wo es keine Zusammenhänge gibt, spricht der Mediziner von Wahnkrankheit, sagte Bodinger. Ich sagte, er solle lieber wiehern.
    Hast du einen Arzt da drüben?, fragte er.
    Ja, sagte ich. Die kennen sich aus mit Zuckerkrankheit. Die Indianer werden alle zuckerkrank. Ist das billige Essen.
    Du musst unbedingt auf einen BMI von unter fünfundzwanzig kommen. BMI . Body Mass Index.
    Ich weiß.
    Schaffst du das?
    Wie viel Kilo sollte ich haben für fünfundzwanzig?
    Wie groß bist du?
    Eins achtundsiebzig, ungefähr.
    Er griff nach seinem Handy, tippte kurz darauf herum, sagte dann: neunundsiebzig Kilo und einundzwanzig Deka.
    Hm. Das wären fünfzehn Kilo.
    Lies die Broschüren, sagte er mit einem Lächeln. Besorg dir Ernährungsratgeber, glykämischer Index und so, ist eh gerade in Mode. Gibt es sicher in den USA auch.
    Kanada.
    Ja. Natürlich. Kanada. Und Bewegung! Bewegung ist das Wichtigste.
    Dann schwiegen wir, bis ich fragte, ob das alles sei, ja, sagte er, und: warte. Und dann stand er auf und räusperte sich,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher