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0756 - Tod über der Tunguska

0756 - Tod über der Tunguska

Titel: 0756 - Tod über der Tunguska
Autoren: Roger Clement
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Straflager 252, Region Tunguska, Sibirien, Russland, Juni 1908
    »Willkommen in der Hölle!«
    Leutnant Arkadi Baldews hartes Gesicht war zu einer grausamen Grimasse verzerrt, als er seine neuen ›Gäste‹ mit diesen Worten begrüßte.
    Er wollte das Lumpenpack von der ersten Minute an zu bedingungslosem Gehorsam zwingen. Leutnant Baldews Weltbild war fest gefügt. Dieses Gesindel in den abgetragenen Kleidern und mit den Lumpenbündeln hatte sich gegen die gottgewollte Ordnung des russischen Staates erhoben. Das Pack rebellierte gegen seinen geliebten Zaren. Dieser Abschaum lehnte sogar die heilige Orthodoxe Kirche Russlands ab. Denn, um das Maß voll zu machen, diese Dreckskerle glaubten noch nicht einmal an Gott! Und somit auch nicht an den Teufel, an die Hölle ebenfalls nicht…
    Aber es gibt eine Hölle!, dachte Leutnant Baldew grimmig. Das Straflager 252 ist das Fegefeuer für euch gottlose Anarchisten. Und ich, Arkadi Baldew, Offizier Seiner Majestät des Zaren, werde euer persönlicher Teufel sein…
    Die Strafgefangenen standen vor ihm wie begossene Pudel. Ein Dutzend Neuankömmlinge waren es, die an diesem kalten Frühlingsmorgen in seinem Herrschaftsbereich eintrafen. Wahrscheinlich war die Bande nicht sehr munter, was nicht weiter erstaunlich war. Nach einer tagelangen Fahrt mit der erst vor wenigen Jahren fertig gestellten Transsibirischen Eisenbahn hatte man sie von Irkutsk aus mit einem pferdegezogenen Gefangenentransporter hierher geschafft.
    In die Hölle am Ende der Welt.
    Ins Straflager 252 am Ufer der Steinigen Tunguska…
    Leutnant Baldew marschierte vor dem Anarchistentrupp auf und ab. Er spielte mit seiner Reitgerte. Die matte sibirische Frühlingssonne warf Lichtreflexe auf seine blank polierten schwarzen Schaftstiefel.
    »Ihr Hurensöhne werdet es noch bereuen, euch gegen Seine Majestät den Zaren erhoben zu haben. Wenn ich, Leutnant Arkadi Baldew, mit euch fertig bin, werden euch eure eigenen Mütter nicht mehr erkennen! Wahrscheinlich fragt ihr Maden euch jetzt, wo ihr hier eigentlich gelandet seid. Nun, dieser Fluss dort hinter dem Zaun wird die Steinige Tunguska genannt. Wir sind hier im mittelsibirischen Bergland. Östlich von hier ist das jakutische Tiefland. Im Norden haben wir die tödlichen Sümpfe der Taimyrsenke. Und wenn ihr Brüderchen nach Südwesten entkommen wollt, dann könnt ihr versuchen, über die Gipfel des Altai-Gebirges zu kriechen. Falls ihr das wider Erwarten schaffen solltet, warten auf der anderen Seite die Soldaten des chinesischen Kaisers, die sich immer freuen, wenn sie einem Europäer die Haut abziehen können. Und hier am Ufer der Tunguska leben nur ein paar schlitzäugige Tungusen, die mehr Angst vor mir haben als vor ihren heidnischen Götzen, die sie anbeten. Mit anderen Worten: Falls ihr an Flucht denkt und auf Hilfe hofft, so könnt ihr das getrost vergessen. Jeder von diesen lieben Hirten und Zobeljägern wird euch liebend gerne ans Messer liefern, um sich bei mir einzuschmeicheln. Denn ich bin der uneingeschränkte Herr, so weit das Auge reicht!«
    Leutnant Baldew wollte mit seinem Monolog fortfahren und holte nur kurz Luft. Doch in diesem Moment spuckte einer der Anarchisten verächtlich vor ihm aus!
    Die Wachen der Begleitmannschaft keuchten ungläubig. War dieser Jüngling nicht nur ein Staatsfeind, sondern auch ein Verrückter? Denn nur ein Wahnsinniger konnte auf die Idee kommen, Leutnant Baldew freiwillig herauszufordern!
    Beinahe hätte der Anarchist beim Ausspucken die blank polierten Stiefel des Offiziers getroffen. Aber eben nur beinahe. Trotzdem entging Baldew natürlich die abfällige Geste nicht.
    Sein Gesicht nahm die Farbe einer reifen Tomate an. Er marschierte zu dem jungen Aufrührer zurück und baute sich direkt vor ihm auf. Obwohl er vor Wut kochte, war seine Stimme leise, fast sanft, als er nun sprach.
    »Meine kleine Rede scheint dir nicht zu gefallen, Söhnchen.«
    Oleg Petrow starrte störrisch zur Seite. Er hasste Leutnant Baldew, wie er jeden Kriecher hasste, der sich in die Uniform des verfluchten Zaren stecken ließ. Am ehesten empfand Petrow noch Mitleid mit den einfachen Soldaten. Diese Söhne hart arbeitender Muschiks [1] wussten es einfach nicht besser. Nach Petrows Ansicht wurden sie von den Beamten des Zaren und von der Kirche dumm gehalten, um besser der Unterdrückung ihrer eigenen Familien dienen zu können.
    Das ganze Russische Reich, von der österreichischen Grenze bis zum japanischen Meer, kam dem jungen Rebellen
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