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0756 - Tod über der Tunguska

0756 - Tod über der Tunguska

Titel: 0756 - Tod über der Tunguska
Autoren: Roger Clement
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Uniformierten ihn mit Fußtritten traktierten, kam der junge Anarchist nicht vom Boden hoch.
    Schließlich holte man zwei andere Gefangene, die ihren Leidensgenossen in die Unterkunft schleiften.
    »Du hast ein unglaubliches Glück gehabt, mein Junge«, sagte einer der Sträflinge.
    Glück? Oleg Petrow warf ihm einen fragenden Blick zu. Seine Knie schmerzten wie die Hölle, und seine Kehle brannte vor Durst, von den Prellungen durch die Kolbenschläge der Wachen einmal ganz abgesehen. Und trotzdem sollte er ein Glückspilz sein?
    Der Sträfling spürte die Skepsis des Neuangekommenen. Er brachte ein wehmütiges Lächeln zu Stande.
    »Doch, wirklich, Brüderchen. Du hast ganz großes Glück gehabt, weil Leutnant Baldew heute gute Laune hat. Was meinst du, was er mit dir gemacht hätte, wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen wäre!«
    Petrow erschauerte innerlich. Dieser Leutnant Baldew war offenbar ein ganz besonders gemeines Exemplar eines Zarenknechts. Bei näherem Nachdenken erstaunte das den jungen Anarchisten allerdings nicht. Um ein Straflager am Ende der zivilisierten Welt führen zu können, musste man schon ein ganz besonderer Satansbraten sein.
    Und alles, was er im Lager 252 erlebte und erblickte, bestätigte diese Ansicht Petrows…
    Die beiden Mitgefangenen schafften ihn in eine Baracke, die mit ungefähr fünfzig Mann belegt war. In altertümlichen Stockbetten waren die Unglücklichen untergebracht, auf engstem Raum. Die Fenster des Gebäudes waren vergittert und so klein, dass man noch nicht einmal den Kopf hindurchstecken konnte. Ein kleiner Kanonenofen in der Raummitte sollte vor den sibirischen Wintertemperaturen von unter minus 30 Grad Celsius schützen. Jetzt, an diesem Frühlingsabend, war der Ofen allerdings kalt.
    Petrow fühlte ohnehin viel zu viel Hitze in seinen schmerzenden Knien, um frieren zu können. Er lag auf dem Strohsack, mit dem die Pritsche bedeckt war, und massierte vorsichtig seine Kniescheiben.
    Einer der Kerle, die ihn hergeschleift hatten, lachte freudlos.
    »Ja, die berühmten kleinen Ketten des Leutnants! Den Trick hat er von den Chinesen gelernt. Die Ketten schmerzen wie die Hölle, aber sie töten dich nicht. Sei froh, dass du nicht die Knute zu schmecken bekommen hast. So wie der alte Gregor…«
    Der magere Gefangene deutete mit dem Kinn auf einen Greis, der im dritten Bett links neben Petrow lag. Dessen Gesicht wirkte wie ein Totenschädel, über den man straff eine wächserne Haut gestreift hat. Die dünne Decke auf seinem Körper war blutbefleckt.
    Der junge Anarchist biss in ohnmächtigem Zorn die Zähne zusammen. Die Knute war die gemeinste Waffe, die im Russischen Reich verwendet wurde. Eine Peitsche, mit der man Knochen brechen konnte, wenn man sie richtig einsetzte. Und Petrow hatte keinen Zweifel daran, dass Leutnant Baldews Männer die Knute zu führen verstanden…
    Als hätte der Alte geahnt, dass über ihn geredet wurde, begann er plötzlich zu husten und zu keuchen. Er spuckte Blut.
    »Mit Gregor geht es zu Ende!«
    Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Baracke. Die Gefangenen versammelten sich um das Bett des schwer Verletzten. Und auch Petrow, dessen Knie sich etwas erholt hatten, humpelte zu Gregor hinüber. Er wurde von einer unerklärlichen Neugier angetrieben…
    »Heiß… mir ist so heiß…«, röchelte der Alte. Er schob die Bettdecke ein Stück weit abwärts. Nun konnte Petrow deutlich die kyrillischen Buchstaben einer Tätowierung auf Gregors bleicher Brust erkennen.
    KEIN GOTT UND KEIN HERR!
    Der eintätowierte Spruch zeigte deutlich, dass Gregor, wie Petrow selbst, ein Anarchist war.
    Die Anhänger dieser Lehre lehnten jede göttliche oder übermenschliche Macht ab. Und auch die Menschen untereinander sollten gemäß ihrer Idealvorstellung nicht einer den anderen unterdrücken. Daher durfte es nach anarchistischen Vorstellungen auch keine Könige, Kaiser, Adligen, Offiziere oder Fabrikherrn geben, die ihre Untergebenen herumkommandierten. Keine Macht für niemand war ein griffiger Slogan, in dem sich ihre Ideen zusammenfassen ließen.
    »Mit mir geht es zu Ende, meine schönen Söhnchen.« Gregors Stimme war nicht mehr als ein Hauchen. Doch in der Gefangenenbaracke herrschte eine solche Totenstille, dass man jedes Wort deutlich verstehen konnte. »Aber die Rettung ist nahe, glaubt mir. Ich… ich habe ihn gesehen.«
    Ein Hustenanfall unterbrach den alten Mann.
    »Wen gesehen, Väterchen?«, hörte Petrow sich selbst
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