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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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schaute sich um, als stünde er mitten unter den Schreibpulten und als käme Professor Sturmbannführer mit lüstern neugierigem Habichtgesicht auf ihn zu. Und dann wieherte er, laut und lang anhaltend, wie er es nie geschafft hatte in den Knabeninternatsjahren. Und ein zweites Mal wieherte er, und noch einmal, ließ sich in seinen breitlehnigen Chefsessel fallen, konnte nicht mehr aufhören.
    Ich versuchte, in sein Wiehern einzustimmen, und siehe da, es gelang mir. Ich konnte wiehern. Leise und eher kläglich im Vergleich zu Bodinger, ja, es hörte sich mehr an wie ein verloren gegangenes Fohlen, das nach der Mutterstute schreit, aber es war ein Wiehern. Bodinger und ich saßen uns gegenüber, er im lederbezogenen Arztstuhl, ich auf dem deutlich billigeren Besucherstuhl auf der anderen Seite des von Papieren und Medikamentenschachteln übersäten Tisches, beide hatten wir die Köpfe weit zurückgelegt, und wir wieherten. Ein helles, starkes, frohes Wiehern bei ihm, wie Fury gewiehert hatte in der Fernsehserie, nachdem ihn das Kind gefragt hatte, na Fury, wie wäre es mit einem kleinen Ausritt?
    Schwach und kläglich ich, aber Bodingers Wiehern war so laut und voller Kraft und Energie, so eindeutig das kurz bevorstehende Losstürmen eines siegesgewissen Hengstes ankündigend, dass ich lachen musste in das Wiehern hinein. Und auch Bodinger hörte auf, er hievte seinen Oberkörper nach vorn, ließ beide Hände mit einem Krachen auf die Schreibtischplatte fallen und lachte ein Lachen, das mehr wie ein Brüllen klang.
    Dann war es auf einmal peinlich. Wir wussten nicht recht, was wir sagen sollten. Also dann, murmelte er schließlich. Die Pflicht ruft. Viele Patienten heute?, fragte ich. Immer, sagte er, viele Patienten, jeden Tag. Er stand auf und reichte mir die Hand über den Tisch. Ich schüttelte sie und ging hinaus. Ich solle ihm bei Gelegenheit ein Mail schicken, rief er mir nach, sobald die kanadischen Kollegen die Diagnose bestätigt und einen verbindlichen Behandlungsplan erstellt hätten.
    Gut, sagte ich. Wir mailen sich.

77
    Der Gong der Haustürglocke schellte, erschreckte mich, weil noch nie jemand bei meiner Mutter angeläutet hatte, seit ich zurückgekehrt war ins Jugendzimmer, tagsüber nie, und nach Einbruch der Dunkelheit schon gar nicht, noch immer war es das Big-Ben-Läuten in asthmatisch schwachem Achtziger-Jahre-Elektronikklang, ein zweites Mal orgelte der Gong, dann hörte ich sie die Treppe hinunterstapfen, langsam und vorsichtig.
    Ich saß am Laptop und korrigierte im Katalogtext herum, verwarf die letzten Seiten, zog neue Schlüsse. Es war notwendig. Es hatte sich herausgestellt, dass ich, so es um mein Privatleben geht, einer bin, der seine Wahrnehmungen und Informationen nicht ordentlich und sinnvoll einordnen kann, zu falschen Schlüssen kommt, irrige Interpretationen findet und Fehlurteile fällt. Also einer, der sich getäuscht hat und der der Ent-Täuschung bedarf. Es war notwendig, mit dem Täuschen und Getäuschtwerden auch in dienstlichen Angelegenheiten aufzuhören. Was bedeutete, dass ich am Ende der Geschichte dem Heiligen Mann Anerkennung zukommen ließ.
    Dafür, dass er die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Er und seine Kirche, so sie denn schon eine war, hatten sofort zu handeln begonnen, um in das Machtvakuum vorzustoßen. Das Patriarchat von Rom, das später die Katholische Kirche werden sollte, oder es schon war, je nach Geschmack und Interpretationsvorlieben, schlüpfte nahtlos in die leere Hülle, übernahm Strukturen und Know-how und Strahlkraft des verschwundenen Imperium Romanum und damit auch, auf lange Sicht, dessen Machtfülle und Wirkungsgewalt über den Kontinent, bald schon über den gesamten Erdkreis. Severinus hatte diesen gewaltigen Strukturwandel eingeleitet in jenem Raum, der dann der mitteleuropäische werden sollte. Ob dieses sein Wirken ein verdienstvolles war, überließ ich dem Urteil der Katalogleser.
    Meine Mutter klopfte an die Kinderzimmertür und sagte durch die dünne Spanplattenfüllung, dass jemand für mich da sei. Ich öffnete, und da standen sie nebeneinander im Flur, das Asylkind und meine Mutter, beide sagten nichts, sahen mich an, als ob sie eine Wette eingegangen wären, wie ich reagieren würde, ich tat, wovon ich glaubte, dass es einer natürlichen Reaktion am ähnlichsten wäre, oh, sagte ich, du hier, Trixi nickte, wollte was sagen, meine Mutter unterbrach sie, das junge Fräulein habe ihr schon alles erklärt, sagte sie, nun unterbrach
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