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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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ihm oder seinen Auftraggebern nicht passte. Liegst dem Erdteil du inmitten, hatte ich geschrieben über das von den Romanen verlassene Land, wie ein Herz, das Herz Europas, Mitteleuropas, ja, das ist hier, genau hier. Aber es ist ein eisig kaltes Herz, das kein Leben durch Adern und Venen pumpt und keine Wärme, sondern Eiswasser, nur Eiswasser.
    Ein wenig sieht es aus, als wollten Sie in Ihrem Aufsatz Themen aktueller Diskurse abhandeln, eingehüllt in Historie und Heiligenlegenden, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber, Sie verstehen, Globalisierungskritik und anschwellende Migrationsströme im altphilologisch-bildungsbürgerlichen Mäntelchen, Völkerwanderung, Imperiumsuntergänge als Spiegel, den die Vergangenheit der Gegenwart vorhält, und so Sachen.
    Finden Sie?, sagte ich.
    Die Herren Landeshauptleute werden das nicht goutieren, sagte er. Und nach einer Pause: Allerdings werden Sie es eh nicht bemerken.
    Die Klosterbrüder hüllten den Exhumierten in neue Leichentücher, hoben ihn in den Sarg, der seit sechs Jahren schon bereitstand, stellten ihn auf einen Pferdewagen und verließen Favianis. Denselben Weg gingen mit uns alle Provinzbewohner, schreibt Eugipp, die ihre Städte an der Donau verließen und in ganz verschiedenen Gebieten Italiens Wohnsitze in der Fremde zugeteilt bekamen. Der Leichnam aber wurde, nachdem man durch viele Gegenden gefahren war, nach Mons Feleter gebracht. Was ein profanes Bauwerk war, ein Kastell in der Nähe von San Marino.
    Kaum war der Leib des Severinus aus der Erde, begann schon wieder ein unglaubliches Wunderwirken, Kranke wurden geheilt in großer Zahl, Blinde sehend, von unreinen Geistern Besessene im Handumdrehen der göttlichen Gnade zuteil. Ein Stummer trat an den Sarg des Heiligen Mannes und betete demütig bei dessen Füßen, in der Kammer seines Herzens natürlich, da sein Mund ja verschlossen war, und schon konnte er sprechen mit lauter und klarer Stimme. Ein Blinder, der die Psalmen singende Volksmenge auf der Straße vor seinem Haus hörte, an dem der Wagen mit dem Holzsarg vorbeifuhr, bat, man möge ihn ans Fenster führen, und sowie er sich betend aus dem Fenster lehnte, sah er plötzlich wieder. Allem Anschein nach hatte Eugippius selbst genug von all dem Wunderzeugs, es mag genügen, drei von den unzähligen gnadenvollen Wundertaten berichtet zu haben, schreibt er, und schildert auffallend kurz und knapp nur noch, wie am Ende der Leichnam des Wundermannes im Castrum Lucullanum feierlich bestattet wurde, unter allergrößter Teilnahme der Bewohner Neapels an dem feierlichen Leichenzug. Es liest sich, als hätte Eugipp die Lust verloren an der Geschichte, so wie ich nur noch mit großer Unlust die abschließenden Informationen formulierte. Dass die illustris femina Barbaria bei Papst Gelasius I. die Erlaubnis erwirkt hatte, dem Heiligen Mann an ihrem Wohnsitz Lucullanum ein Mausoleum zu errichten, dass diese Barbaria wahrscheinlich die Witwe des Orestes war und Mutter des letzten römischen Kaisers Romulus Augustulus, dessen Verbannungsort bekanntlich Lucullanum war. Dass ein Kloster errichtet wurde, es steht heute noch, schrieb Eugipp im Jahre 511 in der Vita , ja, es steht noch, aber ist nun verwahrlost und halb verfallen. Dass der Heilige Mann ein weiteres Mal aus- und wieder eingegraben wurde, wie die drei Russen von der Teufelseiche und vom Dorffriedhof, als die sterblichen Überreste des Severinus im Jahre 1807 in Frattamaggiore nördlich von Neapel zur vorläufig letzten Ruhe gebettet wurden. Dass nicht überliefert ist, ob da Leib und Bart und Haupthaar noch unversehrt waren, ob der Leichnam lieblichst geduftet hat bei dieser Umbettung.
    Aufhören ist immer das Schwierigste. Ich sah nach, wie die anderen ihre Geschichten beendet hatten. Giese stemmt den letzten Absatz seines Romans auf die Metaebene, reportiert eigene Traumgesichte, Attila sieht er, Orestes und Odoaker, und natürlich all die verführerischen Frauen, die er um Severinus herum angesiedelt hat. Still, der Psalm ist zu Ende, so hört er auf, eine Amsel singt in der Nacht. Gott ist. Sendungsbewusst und frömmlerisch kommt der Priesterdichter Dörfler ans Ende: Aber auch die Vita des Eugipp, diese seine Lebensbeschreibung ist nur ein Funke aus dem wundersamen Lichte, das einstens in die Finsternis einer wahrhaft finsteren Welt gestrahlt hat. Merkwürdig sachlich und kurz angebunden Eugippius, ein letztes Mal preist er den Heiligen Mann: Ihm gebührt Ehre und Ruhm in alle Ewigkeit. Amen. Der
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