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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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Vollständigkeit halber nehme ich Johann Georg Kohl herein, seine Abschiedsworte an Kitchi Gami, das Große Wasser, die ihm an Bord des Dampfers Nordstern durch den Kopf gingen. Rasch dahinschwindende Völker blieben mir im Rücken, formuliert er sentimental, und schließt mit einem Zitat aus Longfellows Hiawatha . And I said: Farewell for ever!
    Na ja. Es war den Kollegen auch nicht besser gegangen als mir.

79
    Der Luchs ist das Tier, das man nicht sieht. Wenn man es sieht, bedeutet das großes Unheil. Die Welt neben der Welt hat dich einen Augenblick lang in sich hineinschauen lassen, das hält niemand aus, darum taucht in solchen Momenten der Wasserluchs auf, der ein Helfer ist, wenn ihm danach ist. Er warnt und hält einen zurück, auf dass man nicht verschwinde in das, was neben dem ist, das ist.
    Ich saß vor dem Fernsehapparat im Wohnzimmer meiner Mutter und sah das Wasserluchsweibchen in den Mittagsnachrichten. Live-Übertragung einer Pressekonferenz in einem Pfarrhof im Innviertel. Das verschwundene Asylantenmädchen war aufgetaucht. Neben ihr saßen ein Priester, ein Anwalt und ein Medienberater, den ihr die Menschenrechtsgruppe beigestellt hatte, unter deren Fittichen sie sich versteckt hatte, davor rauften hundert und mehr Fotografen, Kameraleute und Journalisten um die besten Plätze. Sie sah noch jünger aus als auf dem Amateurvideo. Vielleicht hat sie nicht gelogen. Vielleicht ist sie die wirklich nicht.
    Der Wasserluchs ist ein wildes Wesen, das man nicht reizen darf. Wer Unrechtes im Sinn hat, den holt es sich aus dem Kanu und zieht ihn auf den Grund des Sees und hält ihn mit eisernem Griff, bis er ersäuft, oder es lässt im Winter das Eis schmelzen in Blitzesschnelle, sodass der Unrecht Sinnende versinkt und ertrinkt im eisigen Nass. Aber wenn du um Hilfe bittest in Demut, aufrechten Sinns und ohne Absicht, mit den erbetenen Gaben Schaden anzurichten, dann schnellt Mishi Bizhi hoch aus dem Wasser und lässt sich zurückplatschen und duscht dich dabei mit einer Flutwelle von Spritzern und Tropfen, und die bringen dir Zufriedenheit, Gelassenheit und Wohlstand.
    Das Mädchen im Fernsehen, das aussah wie das Wasserluchsweibchen, nur viel jünger, beantwortete mit sichtlicher Nervosität die Journalistenfragen. Ja, sie habe bereits mit dem Landeshauptmann persönlich geredet. Ja, der habe ihr versprochen, dass man sie bis Weihnachten auf jeden Fall in Ruhe lassen werde. Nein, was sie vom Herrn Innenminister halte, das wolle sie lieber nicht im Fernsehen sagen. Ja, die Selbstmorddrohung sei ernst gemeint gewesen. Ein Journalist fragte, ob Selbstmord noch immer ein Thema sei für sie. Ja, sagte das Mädchen mit gesenktem Kopf, wenn es nicht anders geht.
    Mein Handy klingelte. Trixi. Siehst du es im Fernsehen?, fragte sie.
    Ja.
    Siehst du mich?
    Ja.
    Die Sendung ist live, das weißt du schon, oder? Wie kann ich da mit dir telefonieren?
    Ja, sagte ich, das geht natürlich nicht. Und schwieg. Und geriet in eine Panik, weil alles durch meinen Kopf brauste, nein, nicht alles, nur eines. Eine Frage. Die Frage. Jene, die ich niemals stellen würde, das wusste ich, und dieses Wissen erzeugte die Panik. Ob ihr Angebot noch galt. Und die daraus folgenden Zusatzfragen zu stellen würde ich auch niemals den Mut aufbringen. Ob sie wirklich schon achtzehn war. Ob sie mir irgendwelche Ausweispapiere zeigen würde, die das belegen. Wie sie sich das vorstelle, wenn sie in Thunder Bay wäre.
    Schon arg, was sie mit der anstellen, oder?, sagte sie.
    Ja, sagte ich, fragte, wie es ihr gehe, passt eh alles so halbwegs, war die Antwort, ich fragte, ob sie wieder einmal Lust hätte auf einen Kaffee im Schillerparkhotel, das sei momentan eher schlecht, sagte sie, sie habe da was auf die Reihe zu kriegen, da komme sie in nächster Zeit kaum nach Linz. Aber wenn sie doch einmal in die Stadt käme, würde sie mich anrufen, dann könnten wir uns treffen. Falls ich da noch in Österreich sei. Und legte auf.
    So müssen sich die Anishinaabe gefühlt haben, als ihre Welt zu verschwinden begonnen hatte, und als sie schließlich gemerkt hatten, dass ihnen ein tatsächlicher Untergang bevorstand. Als ihnen klar wurde, dass die Wasserluchse nicht mehr auftauchen würden aus den Großen Gewässern. Dass keine Hilfe zu erwarten war. Dass ein grausames Schicksal sie wegwischen würde von der Oberfläche dessen, das sie für ewig und unveränderlich gehalten hatten. Nein, nicht ein grausames Schicksal. Wir waren es, wir, die Weißen. Die Die
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