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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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Bärenfett. Wenn man wartete, bis die Kartenabreißerin wegsah, konnte man die Waffen, die Legenden, die Nachbauten nach literarischer Vorlage, die Meistertrickster May als authentisch vermarktet hatte, einen Augenblick lang betasten. Was ich getan hatte. Und zwar im vollen Bewusstsein der Lächerlichkeit dieses Unterfangens, der so nackten und bloßen Durchschaubarkeit dieser Täuschung.
    Mays wahnwitzigen Drang wahrgenommen zu werden, gesehen zu werden, erkannt zu werden als das, was er sein wollte, den hatte ich gespürt an der Spitze meines Fingers, als ich ihn in die Mündung des linken Laufes des Bärentöters steckte. Es war, als berührte ich den Schriftsteller May an dem wundesten seiner vielen wunden Punkte. Und auf einmal verstand ich, warum er mitten in der Zweitausend-Seiten-Schwarte Im Reiche des silbernen Löwen die wüste, wirre Abenteuerhandlung zum Stillstand kommen ließ, den genau wie Sam Hawkens unerträglich witzigen zappeligen Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah für die gesamte Dauer der zweiten Hälfte der vierbändigen Erzählung in ein Koma schickte, wieso er statt der ewigen gefahrvollen Herumreiterei und statt Hauen und Stechen und listenreicher Kämpferei nur noch die Menschheitsseele und diese betreffende Angelegenheiten und Umstände beschrieb.
    Erzähl mir von deinem Freund, sagte ich. Dem aus München.
    Das war nicht mein Freund, sagte meine Mutter.
    Ihr seid doch – du und der –?
    Was du glaubst!, rief sie mit einem Kichern und schlug mir vorsichtig, beinahe zärtlich auf den Oberschenkel. Da war nichts. Wir waren ja fast noch Kinder. Ein paar Mal sind wir ins Kino gegangen. Was glaubst du, wie die einen angeschaut hätten, als Backfisch, wenn man allein mit der fliegenden Brücke nach Ottensheim gefahren wäre und alleine ins Kino gegangen wäre. Der Robert hat das meinem Bruder zuliebe gemacht, damit ich einen Begleiter habe. Das war ja fast eine Stunde zu gehen bis zur fliegenden Brücke, die Hälfte durch die Au. Kann man sich heute gar nicht vorstellen.
    Den Robert werfe ich ihr vor seit Jahrzehnten. Dabei ist es nur ein Witz gewesen, was sie damals erzählt hat beim Familientreffen. Es hatte tatsächlich bloß ein Witz sein sollen. Der Robert war bestenfalls eine Backfisch-Schwärmerei in schweren dunklen Zeiten gewesen, nicht einmal ein wirklicher Flirt.
    Aber du hast doch einmal gesagt, dass du die Frau des Architekten wärst, wenn dein Bruder nicht gestorben wäre in Detmold, sagte ich.
    Sie faltete die Hände und sprach mit mir wie zu einem dümmlichen Kind, dem man alles langsamer und ausführlicher erklären muss als den anderen. Der Vater von dem Robert, der was Hohes war bei den Nazis, in den Göringwerken, der hat geschaut, dass er nach dem Krieg die Familie so schnell wie möglich nach München schafft, sagte sie. Zweimal hat mir der Robert noch geschrieben, aber das war nichts – dass er und ich irgendwie – halt so was, wie du da allem Anschein nach glaubst. In dem einen Brief hat er geschrieben, dass er nach Detmold fährt. Und im zweiten, dass mein Bruder tot ist.
    Das ist jetzt der Angelpunkt, an dem die Geschichte auszuhebeln ist. Ausgehebelt werden muss. Die unerhörte Begebenheit in meiner selbst gestrickten, der kleinen engen Welt Sinn und Zweck geben sollenden Novelle. Hier brach alles. Hier implodierte das, was ich für plausible Erklärungen und logische Entwicklungen gehalten hatte, zurückblieben nicht einmal Bruchstücke, die keinen Sinn ergaben, zurückblieb nichts. Und ich schrumpfte ein zu dem kleinen, beleidigten Buben im feindseligen Dorf, der tobte und wütete, natürlich nur nach innen. Tobte, weil sie Zeit ihres Lebens Herz und Wärme und Nähe nur für einen übrig gehabt hatte, der gar nicht da war, weshalb ich, und nicht nur ich, sondern mein Vater und ich ihr gleichgültig waren, bestenfalls, wir waren ihr nur Ersatz, zuerst, dann eine Last und schließlich hassenswert, weil wir schuld waren, dass sie nicht die Frau Architektin in München geworden war, an der Seite Roberts. So banal war das alles. Ich habe mir eine Geschichte zusammengebastelt von einer verlorenen Liebe meiner Mutter, der sie sich ein Leben lang hinterhergesehnt hatte. Meine Erinnerung an die Mutter ist die Erinnerung an eine Eisesfrau: zurückhaltend, vorwurfsvoll, kalt. Hinter den Jacken und Mänteln im Vorzimmer versteckt.
    Aber bekanntlich ist Erinnerung ein Konstrukt, das sich zusammensetzt aus dem Ereignis und dem Erinnern an
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