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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe
Autoren: Wolfgang Bergmann
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Fördern – bis in der Seele alles leer ist

    Was ist eine Blume, »what is a flower«?
    EINER DER BEKANNTESTEN GEHIRNFORSCHER in Deutschland hat es mir ganz plastisch vor Augen geführt: Wenn ein vierjähriges Kind durch eine Wiese läuft, dann erkennen wir mithilfe der bildgebenden Verfahren, über die die moderne Gehirnforschung verfügt, eine Fülle von Gehirnaktivitäten. In allen Arealen leuchtet es auf, die Verschaltungen zwischen den Gehirnregionen sind hoch aktiv, kurzum, das Kind spürt, empfindet und lernt ununterbrochen in ganz hoher Komplexität.
    Und nun das andere Bild: Dasselbe Mädchen auf einem Stuhl, es folgt dem Englisch- oder sonst einem normierten Unterricht zur Frühförderung. Was immer dort vorgetragen wird, wie spielerisch sich die Pädagogen und Erzieherinnen auch bemühen: Es sind zwei, höchstens drei Gehirnbereiche, die aufleuchten, die Aktivität zeigen, der Rest ist dunkel und leer.
    In den bildgebenden Verfahren können wir heute unmittelbar anschaulich machen, was die Lernpsychologie seit Langem weiß: Alles Lernen ist ein Erfahrungslernen. Womit ein Kind sich beschäftigt, wovon es fasziniert, hingerissen oder erschüttert oder hocherfreut ist und was seine Körperlichkeit zugleich erreicht – all das wirbelt durch den kleinen Kopf und stellt Verknüpfungen her, die zur geistigen Wachheit führen.

    Was die Gehirnforschung sagt, sagt auch die Entwicklungspsychologie, sagt auch die Verhaltensforschung und die Bindungsforschung. Sagt auch – wir kommen noch darauf – die große Philosophie. Wir haben ein allgemeines menschliches Wissen darüber, wie Kinder aufwachsen, wie sie sich entfalten und wie diese Entfaltung behindert wird. Aus irgendeinem Grund, der gar nicht richtig zu verstehen ist, machen wir aber ausgerechnet in der Förderpädagogik für die Kleinen haargenau das Gegenteil.
    Und Eltern und eine ganze soziale Kultur ziehen eifrig an demselben Strang und rufen: Fördern, fördern – wo es doch um etwas ganz anderes ginge, nämlich darum, den wachen kindlichen Geist zu beflügeln, ihm kleine Glanzlichter aufzustecken, an denen die Kinder Freude haben, sodass sie mit ihrem tagtäglich neuen Erfahrungssammeln am liebsten die ganze Welt umarmen und be-greifen würden.
    Machen wir uns dies an einer kleinen beispielhaften Szene deutlich: Ein Kind, vielleicht drei Jahre alt, schaut verzückt auf eine Blume. Es atmet deren fragile Gestalt gleichsam ein. Mit allen Sinnen, mit den Fingerspitzen und der Empfindsamkeit der Haut nimmt es die Eigenart dieses beglückenden Objekts auf. Jetzt lernt dieses Kind ... ach, wenn ich aufzählen wollte, was alles es jetzt gleichzeitig lernt, dann würden die nächsten fünf Seiten dieses Buches dafür nicht ausreichen. Das schmale Gewicht wird empfunden, wie leicht und sanft diese Blume ist, Kindergefühle mischen sich in diese Leichtigkeit (»Ich bin selber ja auch noch klein, fast wie eine Blume«),
Neugier und mehr: Liebevolle Zuwendung zu diesem Naturgeschöpf Blume durchströmt das Kleine, ganz ähnlich, wie der kleine Prinz in der schönen Geschichte von Saint-Exupéry vom Anblick seiner Rose durchströmt wurde. Jetzt, so sagte der kleine Prinz, ist die Blume mir vertraut. Vertrauen also lernt dieses Kind – und wie wichtig ist doch ehrliches Vertrauen, Grundlage jedes Mitgefühls, jeder Moral usw.! All das lernt und fühlt es, jetzt , ganz versunken in den Anblick der Blume, die es in den Händen hält.
    Jetzt kann man nur hoffen, dass es nicht gerade in einer Kita mit Förderunterricht sitzt. Dann nämlich ist es wahrscheinlich, dass eine Erzieherin sich neben es hockt, ganz spielerisch und freundlich natürlich, und sagt: »Look, this is a flower. Say it again: a flower.« Was immer dieses Kind durchströmte, wird nun auf eine einzige Abstraktion, ein Wortschnipsel gebracht, und dies zu allem Überfluss auch in einer dem Kind unvertrauten Sprache, nicht einmal im Sprachklang findet es seine Gefühle für diese Blume wieder. Das volle plastische und lebendige Bild der Blume erlischt und an seine Stelle tritt eine dürre Vokabel – eine englische, nicht die in Mamas oder Papas Sprache, sondern in einer fremden.
    Das soll fördern? Was denn? Das Auswendig-Behalten von Vokabeln vielleicht? Hören wir nur genau hin: auswendig behalten. Die Kinder sollen aber etwas innenwendig aufnehmen, atmen und festhalten. So erleben oder meinetwegen »lernen« sie mit allen Sinnen und Gefühlen Vernunft und Sprache in einem.

    Vertrauen, Schritt
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