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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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Das Buch des Grotesken
    Der Schriftsteller, ein alter Mann mit weißem Schnurrbart, hatte Schwierigkeiten, ins Bett zu kommen. Die Fenster des Hauses, das er bewohnte, waren weit oben, und er wollte, wenn er morgens wach wurde, auf die Bäume blicken. Ein Tischler kam, das Bett so zu richten, dass es auf einer Ebene mit dem Fenster lag.
    Um die Angelegenheit wurde viel Aufhebens gemacht. Der Tischler, der im Bürgerkrieg Soldat gewesen war, trat ins Zimmer des Schriftstellers, setzte sich und sprach davon, zum Anheben des Bettes ein Podest zu bauen. Der Schriftsteller hatte Zigarren daliegen, und der Tischler rauchte.
    Eine Weile redeten die beiden Männer über das Anheben des Bettes, dann redeten sie über andere Dinge. Der Soldat kam auf den Krieg zu sprechen. Vielmehr hatte der Schriftsteller ihn auf das Thema gebracht. Der Tischler war einmal im Gefängnis von Andersonville in Haft gesessen und hatte einen Bruder verloren. 1 Der Bruder war verhungert, und jedes Mal, wenn der Tischler darauf zu sprechen kam, weinte er. Wie der alte Schriftsteller hatte auch er einen weißen Schnurrbart, und wenn er weinte, verzog er den Mund, und der Schnurrbart wippte auf und nieder. Der weinende Alte mit der Zigarre im Mund wirkte lächerlich. Der
Plan des Schriftstellers, sein Bett anheben zu lassen, war vergessen, und später richtete der Tischler es nach seinen Vorstellungen, und der Schriftsteller, der über sechzig war, musste sich eines Stuhls bedienen, wenn er abends zu Bett ging.
    Im Bett drehte sich der Schriftsteller auf die Seite und lag ganz still da. Jahrelang hatten ihn Ahnungen betreffend sein Herz bedrängt. Er war starker Raucher, und er hatte Herzflimmern. In seinem Kopf hatte sich die Vorstellung festgesetzt, dass er irgendwann unerwartet stürbe, und jedes Mal, wenn er zu Bett ging, musste er daran denken. Es beunruhigte ihn nicht. Die Folge war eigentlich etwas sehr Besonderes und nicht leicht zu erklären. Es machte ihn im Bett lebendiger als irgendwo sonst. Vollkommen reglos lag er da, und sein Körper war alt und kaum noch zu gebrauchen, aber etwas in ihm war ganz und gar jung. Er war wie eine Schwangere, nur dass das in ihm kein Baby war, sondern ein Jüngling. Nein, kein Jüngling, es war eine Frau, jung, und sie trug eine Rüstung wie ein Ritter. Es ist ja doch absurd, erzählen zu wollen, was in dem alten Schriftsteller vorging, wie er so auf seinem Hochbett lag und dem Flimmern seines Herzens lauschte. Beschreiben lässt sich aber, woran der Schriftsteller, oder vielmehr das junge Wesen in dem Schriftsteller, dachte.
    Wie alle Menschen auf der Welt hatte auch der alte Schriftsteller während seines langen Lebens eine ganze Menge Vorstellungen im Kopf gehabt. Er hatte einmal recht gut ausgesehen, und etliche Frauen waren in ihn verliebt gewesen. Und dann hatte er natürlich Leute gekannt, viele Leute, hatte sie auf eine merkwürdig
vertraute Weise gekannt, die sich von der unterschied, wie Sie und ich Leute kennen. Das jedenfalls dachte der Schriftsteller, und der Gedanke machte ihn froh. Warum mit einem alten Mann über seine Gedanken streiten?
    In dem Bett hatte der Schriftsteller einen Traum, der kein Traum war. Wenn er ein wenig schläfrig wurde, aber doch noch bei Bewusstsein war, erschienen ihm Gestalten vor Augen. Er stellte sich vor, dass das nicht beschreibbare junge Wesen in ihm eine lange Prozession von Gestalten vor seinen Augen vorbeiziehen ließ.
    Das Interessante an all dem waren nämlich die Gestalten, die vor den Augen des Schriftstellers vorbeizogen. Sie waren alle grotesk. Alle Männer und Frauen, die der Schriftsteller je gekannt hatte, waren grotesk geworden.
    Die grotesken Gestalten waren nicht alle scheußlich. Manche waren amüsant, manche beinahe schön, und eine, eine Frau, die völlig aus der Form geraten war, schmerzte den alten Mann mit ihrer grotesken Erscheinung. Als sie vorbeizog, machte er ein Geräusch wie ein wimmernder kleiner Hund. Wären Sie da ins Zimmer getreten, Sie hätten geglaubt, der alte Mann habe unangenehme Träume oder vielleicht Verdauungsstörungen.
    Eine Stunde lang zog die Prozession der grotesken Gestalten vor den Augen des alten Mannes vorbei, dann kroch er, obwohl es ihm Schmerzen bereitete, aus dem Bett und begann zu schreiben. Einige der grotesken Gestalten hatten ihn tief beeindruckt, und das wollte er beschreiben.
    Der Schriftsteller arbeitete eine Stunde an seinem Schreibtisch. Schließlich schrieb er ein Buch, das er «Das Buch des
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