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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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versuchte er es, doch es klemmte, und danach vergaß er es vollkommen.
    Winesburg hatte den alten Mann vergessen, dabei lag in Doktor Reefy die Saat von etwas sehr Schönem. Allein in seiner muffigen Praxis im Heffner-Block über der Kurzwarenfirma «Paris», arbeitete er unablässig,
baute auf, was er selbst zerstört hatte. Kleine Wahrheitspyramiden errichtete er, und nachdem er sie errichtet hatte, stieß er sie wieder um, um die Wahrheiten zu erhalten, mit denen er andere Pyramiden errichten konnte.
    Doktor Reefy war ein hochgewachsener Mann, der seit zehn Jahren nur einen einzigen Anzug trug. Der war an den Ärmeln abgewetzt, und an den Knien und Ellbogen zeigten sich kleine Löcher. In der Praxis trug er außerdem einen Leinenkittel mit riesigen Taschen, in die er beständig Papierschnipsel stopfte. Nach einigen Wochen wurden aus den Papierschnipseln kleine, harte, runde Kugeln, und wenn die Taschen voll waren, leerte er sie auf den Fußboden. Seit zehn Jahren hatte er nur einen einzigen Freund, einen weiteren alten Mann mit Namen John Spaniard, der eine Baumschule besaß. Zuweilen nahm der alte Doktor Reefy, wenn er zu Späßen aufgelegt war, eine Handvoll der Papierkugeln aus seinen Taschen und bewarf den Baumzüchter damit. «Verflixt noch eins, du sentimentaler alter Quatschkopf», rief er dann und schüttelte sich vor Lachen.
    Die Geschichte von Doktor Reefy und seinem Werben um die große dunkle Frau, die seine Frau wurde und die ihm ihr Geld vermachte, ist sehr eigenartig. Sie ist köstlich wie die verwachsenen kleinen Äpfel in Winesburgs Obstgärten. Spaziert man im Herbst in die Obstgärten, ist der Boden hart vom Frost. Die Äpfel sind von den Pflückern schon von den Bäumen gezupft. Sie wurden in Fässer gelegt und in die Städte verschickt, wo sie in Wohnungen gegessen werden,
die voller Bücher, Zeitschriften, Möbel und Menschen sind. An den Bäumen hängen nur noch einige wenige schrumplige Äpfel, die die Pflücker verschmäht haben. Sie sehen aus wie die Knöchel an Doktor Reefys Händen. Knabbert man daran, schmecken sie köstlich. In einer kleinen runden Stelle außen am Apfel hat sich dessen ganze Süße gesammelt. Man läuft über den gefrorenen Boden von Baum zu Baum, pflückt die schrumpligen, verwachsenen Äpfel und füllt sich damit die Taschen. Nur wenige kennen die Süße der verwachsenen Äpfel.
    Die Frau und Doktor Reefy begannen ihr Werben an einem Sommernachmittag. Er war fünfundvierzig und hatte bereits die Angewohnheit, seine Taschen mit den Papierschnipseln zu füllen, die dann zu harten Kugeln und weggeworfen wurden. Die Gewohnheit war entstanden, während er auf dem Wagen hinter dem müden weißen Pferd saß und langsam die Landstraßen entlangfuhr. Auf den Papierchen waren Gedanken notiert, Schlüsse von Gedanken, Anfänge von Gedanken.
    Diese Gedanken erzeugte, einen nach dem anderen, Doktor Reefys Kopf. Aus vielen davon hatte er eine Wahrheit geschaffen, die sich riesengroß in seinem Kopf erhob. Die Wahrheit verdunkelte die Welt. Sie war dann schrecklich anzusehen und verblasste, worauf es wieder mit den kleinen Gedanken begann.
    Die große dunkle Frau kam zu Doktor Reefy, weil sie in anderen Umständen war und Angst bekommen hatte. In diesem Zustand war sie wegen einer Reihe von Geschehnissen, die ebenfalls merkwürdig waren.
    Der Tod ihres Vaters und ihrer Mutter sowie die fruchtbaren Morgen Land, die ihr zugefallen waren, hatten ihr eine Reihe von Freiern an die Fersen geheftet. Zwei Jahre lang traf sie sich beinahe jeden Abend mit einem. Bis auf zwei waren sie alle gleich. Sie sprachen zu ihr von Leidenschaft, und in ihren Stimmen und Augen lag, wenn sie sie ansahen, etwas Angestrengtes, Begieriges. Die beiden, die anders waren, waren einander sehr unähnlich. Der eine, ein schlanker junger Mann mit weißen Händen, der Sohn eines Juweliers aus Winesburg, redete unablässig von Jungfräulichkeit. War er mit ihr zusammen, ließ ihn das Thema nie los. Der andere, ein schwarzhaariger Junge mit großen Ohren, sagte gar nichts, sondern schaffte es immer, sie ins Dunkel zu locken, wo er sie dann küsste.
    Eine Zeit lang dachte die große dunkle Frau, sie werde den Juwelierssohn heiraten. Stundenlang saß sie schweigend da und hörte sich an, was er zu ihr sagte, und dann bekam sie es mit der Angst. Hinter seinem Gerede von Jungfräulichkeit steckte, wie sie zunehmend glaubte, eine Begierde, die größer war als bei allen anderen. Zuweilen erschien es ihr, als hielte
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