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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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überkam ihn Furcht, und er lief wieder zurück zum Haus und stieg die Stufen zur Veranda hoch.
    In Gegenwart George Willards verlor Wing Biddlebaum, der für die Stadt seit zwanzig Jahren ein Mysterium war, ein wenig von seiner Verzagtheit, und sein schattenhaftes Wesen, das sonst in einem Meer von Zweifeln trieb, tauchte auf und betrachtete die Welt. Den jungen Reporter an seiner Seite, wagte er sich bei Tageslicht auf die Main Street oder schritt auf der wackligen Veranda seines Hauses auf und ab und redete erregt. Die Stimme, die sonst leise und zittrig war, wurde schrill und laut. Die gebeugte Gestalt richtete sich auf. Zappelnd wie ein Fisch, der vom Angler in den Bach zurückgeworfen wird, redete Biddlebaum der Stumme auf einmal, mühte sich, die
Ideen, die sich während langer Jahre des Schweigens in seinem Kopf angesammelt hatten, in Worte zu fassen.
    Wing Biddlebaum redete viel mit den Händen. Die schmalen, ausdrucksstarken Finger, immerzu geschäftig, immerzu bemüht, sich in den Taschen oder hinter seinem Rücken zu verbergen, kamen hervor und wurden zu den Kolbenstangen seiner Ausdrucksmaschine.
    Die Geschichte des Wing Biddlebaum ist eine Geschichte über Hände. Deren ruhelose Geschäftigkeit, ähnlich dem Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels, hatte ihm seinen Namen gegeben. Ein obskurer Dichter in der Stadt hatte ihn sich ausgedacht. Die Hände alarmierten ihren Besitzer. Er wollte sie versteckt halten und betrachtete voller Verwunderung die ruhigen, ausdruckslosen Hände anderer Männer, die neben ihm auf dem Feld arbeiteten oder mit verschlafenen Gespannen über Landstraßen an ihm vorüberfuhren.
    Wenn er mit George Willard redete, ballte Wing Biddlebaum die Fäuste und schlug damit auf einen Tisch oder gegen die Wände seines Hauses. Davon wurde ihm wohler. Überkam ihn das Verlangen zu reden, wenn die beiden über die Felder wanderten, dann suchte er sich einen Stumpf oder die oberste Latte eines Zauns und redete, heftig darauf hämmernd, mit frischer Ungezwungenheit.
    Die Geschichte von Wing Biddlebaums Händen ist allein schon ein Buch wert. Einfühlsam dargestellt, würde sie so manche merkwürdigen, schönen Eigenschaften unbedeutender Männer erschließen. Das ist eine Aufgabe für einen Dichter. In Winesburg hatten
die Hände lediglich wegen ihrer Lebhaftigkeit Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit ihnen hatte Wing Biddlebaum an einem Tag bis zu einhundertvierzig Quart 2 Erdbeeren gepflückt. Sie wurden sein kennzeichnendes Merkmal, die Quelle seines Ruhms. Auch machten sie eine ohnehin schon groteske und schwer fassbare Persönlichkeit noch grotesker. Winesburg war auf Wing Biddlebaums Hände in derselben Weise stolz, wie es stolz auf das neue Steinhaus von Bankier White war und auf Wesley Moyers braunen Traberhengst Tony Tip, der beim Herbstrennen von Cleveland den Zwei-fünfzehn-Lauf gewonnen hatte.
    George Willard hatte sich schon viele Male nach den Händen erkundigen wollen. Zuweilen hatte eine nahezu überwältigende Neugier von ihm Besitz ergriffen. Er spürte, dass es für ihre merkwürdige Geschäftigkeit und ihre Neigung, sich versteckt zu halten, einen Grund geben musste, und nur wachsender Respekt vor Wing Biddlebaum hielt ihn davon ab, mit den Fragen herauszuplatzen, die ihm häufig durch den Kopf gingen.
    Einmal war er schon im Begriff gewesen, ihn zu fragen. Die beiden spazierten an einem Sommernachmittag durch die Felder und hatten haltgemacht, um sich auf eine Grasböschung zu setzen. Den ganzen Nachmittag hatte Wing Biddlebaum wie beseelt geredet. An einem Zaun war er stehen geblieben und hatte wie ein riesiger Specht auf die oberste Latte eingehämmert, dabei auf George Willard eingeschrien und seine Neigung verurteilt, sich von den Leuten um ihn herum zu sehr beeinflussen zu lassen. «Du zerstörst dich selbst»,
rief er. «Du neigst zum Alleinsein und zum Träumen, und du fürchtest dich vor Träumen. Du willst wie die anderen in der Stadt hier sein. Du hörst sie reden, und du versuchst, sie nachzuahmen.»
    Auf der Grasböschung hatte Wing Biddlebaum dann erneut versucht, ihm seinen Standpunkt klarzumachen. Seine Stimme wurde weich und schwelgend, und mit einem zufriedenen Seufzer hub er zu einer langen, weitschweifigen Rede an und sprach, als wäre er in einem Traum verloren.
    Den Traum formte Wing Biddlebaum für George Willard zu einem Bild. In dem Bild lebten die Menschen wieder in einer Art idyllischem goldenem Zeitalter. Über ein grünes, weites Land
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