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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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Mädchentraum gründete, der lange schon gestorben war. In Gegenwart des Sohnes war sie verzagt und zurückhaltend, manchmal aber, wenn er in eifriger Erfüllung seiner Pflichten als Reporter in der Stadt umherlief, ging sie in sein Zimmer, schloss die Tür und kniete vor einem kleinen, aus einem Küchentisch gefertigten Pult nieder, das am Fenster stand.
Sie hielt in dem Zimmer vor dem Pult eine kleine Zeremonie ab, die halb Gebet, halb an den Himmel gerichtete Forderung war. Sie sehnte sich danach, in der knabenhaften Gestalt etwas Halbvergessenes, das einst Teil ihrer selbst gewesen war, wiedererschaffen zu sehen. Darum drehte es sich auch in dem Gebet. «Selbst wenn ich sterbe, werde ich Niederlagen irgendwie von dir fernhalten», rief sie aus, und ihre Entschiedenheit war so groß, dass sie am ganzen Körper bebte. Ihre Augen schlossen sich, und sie ballte die Fäuste. «Wenn ich tot bin und sehe, dass er zu einer bedeutungslosen, grauen Gestalt wird wie ich, komme ich zurück», erklärte sie. «Ich bitte Gott jetzt, mir dieses Privileg zu schenken. Ich fordere es. Ich werde dafür bezahlen. Gott mag mich mit Fäusten schlagen. Ich nehme jeden Schlag hin, der mir widerfahren mag, wenn nur dieser mein Junge etwas für uns beide darstellen darf.» Unsicher innehaltend, starrte die Frau im Zimmer des Jungen umher. «Lass ihn aber auch nicht gewandt und erfolgreich werden», fügte sie undeutlich hinzu.
    Der Umgang George Willards mit seiner Mutter war nach außen hin förmlich und ohne Bedeutung. War sie krank und saß in ihrem Zimmer am Fenster, besuchte er sie zuweilen am Abend. Sie saßen an einem Fenster, durch das man über das Dach eines kleinen Holzhauses hinweg auf die Main Street blickte. Mit einer Drehung des Kopfs konnten sie durch ein weiteres Fenster auf eine Gasse sehen, die hinter den Geschäften auf der Main Street verlief, und durch die Hintertür in Abner Groffs Bäckerei. Manchmal, wenn sie so dasaßen, bot sich ihnen ein Bild des städtischen Lebens. An der
Hintertür seines Ladens erschien Abner Groff mit einem Stock oder einer leeren Milchflasche in der Hand. Schon lange herrschte eine Fehde zwischen dem Bäcker und einer grauen Katze, die Sylvester West gehörte, dem Inhaber des Drugstores. Der Junge und seine Mutter sahen die Katze durch die Tür der Bäckerei schleichen und gleich darauf wieder herauskommen, gefolgt von dem Bäcker, der fluchte und mit den Armen fuchtelte. Des Bäckers Augen waren klein und rot, und seine schwarzen Haare und der Bart waren voller Mehlstaub. Manchmal war er so aufgebracht, dass er, obwohl die Katze schon verschwunden war, Stöcke, Glasscherben und sogar einige Geräte aus seinem Geschäft herumschleuderte. Einmal warf er bei Sinnings Eisenwarenhandlung hinten eine Scheibe ein. In der Gasse kauerte sich die Katze hinter Tonnen voller Papierfetzen und zerbrochenen Flaschen, über denen ein schwarzer Schwarm Fliegen flog. Einmal, als sie allein war und nachdem sie einen längeren und wirkungslosen Ausbruch seitens des Bäckers mit angesehen hatte, legte Elizabeth Willard den Kopf auf ihre langen weißen Hände und weinte. Danach schaute sie nicht mehr in die Gasse, sondern versuchte, den Streit zwischen dem Bärtigen und der Katze zu vergessen. Er erschien ihr wie eine Wiederholung ihres eigenen Lebens, schrecklich in seiner Drastik.
    Abends, wenn der Sohn im Zimmer bei seiner Mutter saß, machte die Stille beide verlegen. Die Dunkelheit kam, und im Bahnhof fuhr der Abendzug ein. Auf der Straße stampften Füße auf dem Brettergehsteig hin und her. Über dem Bahnhofsplatz lag, nachdem
der Zug abgefahren war, lastende Stille. Allenfalls zog Skinner Leason, der Frachtangestellte, einen Gepäckwagen den ganzen Bahnsteig entlang. Von der Main Street her erscholl eine Männerstimme, sie lachte. Die Tür des Frachtbüros knallte. George Willard erhob sich, schritt durchs Zimmer und tastete nach dem Türknauf. Manchmal stieß er gegen einen Stuhl, sodass dieser über den Fußboden scharrte. Ihre langen, weißen, blutleeren Hände waren zu sehen, wie sie über die Enden der Armlehnen ihres Stuhls hingen. «Ich finde, es ist besser, du bist draußen bei den Jungs. Du bist zu viel im Haus», sagte sie und mühte sich, die Peinlichkeit seines Aufbruchs zu mindern. «Ich dachte, vielleicht gehe ich spazieren», entgegnete George Willard, der verlegen und verwirrt war.
    An einem Juliabend, als die Durchreisenden, die das «New Willard House» zu ihrem vorübergehenden
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