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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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droschen, wurde sein Zorn immer schrecklicher. Kreischend vor Bestürzung rannten die Kinder wie aufgestörte Insekten durcheinander. «Ich werde dich lehren, die Hände an meinen Jungen zu legen, du Tier», brüllte der Saloonwirt, der den Lehrer nun, als er genug hatte vom Schlagen, mit den Füßen über den Hof stieß.
    In jener Nacht wurde Adolph Myers aus der pennsylvanischen Stadt gejagt. Mit Laternen in der Hand kam ein Dutzend Männer an die Tür des Hauses, in dem er allein lebte, und forderte ihn auf, sich anzuziehen und herauszukommen. Es regnete, und einer der Männer hatte einen Strick in Händen. Sie hatten beabsichtigt, den Lehrer aufzuhängen, doch etwas an seiner Gestalt, so klein, weiß und bedauernswert, rührte sie am Herzen, und sie ließen ihn gehen. Als er in das Dunkel lief, bereuten sie ihre Schwäche und rannten ihm hinterher, fluchten und warfen Stöcke und dicke, weiche Matschklumpen nach der Gestalt, die schrie und immer schneller in das Dunkel rannte. Seit zwanzig
Jahren lebte Adolph Myers allein in Winesburg. Er war erst vierzig, aber er sah aus wie fünfundsechzig. Den Namen Biddlebaum hatte er von einer Kiste mit Waren, die er an einem Güterbahnhof entdeckt hatte, als er durch eine Stadt im östlichen Ohio lief. In Winesburg hatte er eine Tante, eine schwarzzähnige alte Frau, die Hühner züchtete, und bei ihr lebte er bis zu ihrem Tod. Nach dem Vorfall in Pennsylvania war er ein Jahr lang krank, und nach seiner Genesung arbeitete er als Tagelöhner auf den Feldern, wobei er zaghaft zu Werke ging und sich mühte, seine Hände zu verbergen. Obwohl er nicht begriff, was geschehen war, spürte er, dass die Hände schuld gewesen sein mussten. Immer wieder hatten die Väter der Jungen von den Händen gesprochen. «Lass deine Hände bei dir», hatte der Saloonwirt gebrüllt, als er wie ein Rasender auf dem Schulhof herumtanzte.
    Auf der Veranda seines Hauses bei der Schlucht ging Wing Biddlebaum weiter auf und ab, bis die Sonne verschwunden war und die Straße hinterm Feld sich in den grauen Schatten verlor. Dann trat er ins Haus, wo er sich Brotscheiben abschnitt und mit Honig bestrich. Als das Rumpeln des Abendzugs, der die Expresswaggons mit der Tagesernte Beeren fortbrachte, verklungen und die Stille wieder in der Sommernacht Einzug gehalten hatte, machte er sich erneut auf seinen Gang über die Veranda. In dem Dunkel konnte er die Hände nicht sehen, und sie wurden ruhig. Obwohl er sich weiter nach dem Jungen sehnte, der das Medium war, durch das er seine Menschenliebe ausdrückte, wurde die Sehnsucht wie früher Teil seiner Einsamkeit
und seines Wartens. Wing Biddlebaum entzündete eine Lampe und spülte das wenige Geschirr, das durch sein schlichtes Mahl beschmutzt war, dann stellte er an der Fliegentür, die auf die Veranda führte, ein Faltbett auf und entkleidete sich für die Nacht. Ein paar versprengte Weißbrotkrümel lagen auf dem sauber gewischten Fußboden neben dem Tisch; er stellte die Lampe auf einen niedrigen Schemel und machte sich daran, die Krümel aufzulesen und sie einen nach dem anderen mit unglaublicher Geschwindigkeit an den Mund zu führen. In dem dichten Lichtfleck unter dem Tisch sah die kniende Gestalt wie ein Priester aus, der in eine Art Gottesdienst seiner Kirche vertieft war. Die nervösen, ausdrucksvollen Finger, die unablässig durchs Licht zuckten, hätten gut und gern für die eines Eiferers gehalten werden können, der eilig Perle um Perle seines Rosenkranzes abspult.

PAPIERPILLEN
    Er war ein alter Mann mit weißem Bart, einer riesigen Nase und mächtigen Händen. Lange vor der Zeit, in der wir ihn kennenlernen, war er Arzt und lenkte ein müdes weißes Pferd von Haus zu Haus durch die Straßen Winesburgs. Später heiratete er eine Frau, die Geld hatte. Beim Tod ihres Vaters hatte sie eine große, fruchtbare Farm geerbt. Die Frau war still, groß und dunkel, und viele fanden sie sehr schön. Jeder in Winesburg fragte sich, warum sie den Arzt geheiratet hatte. Binnen eines Jahres nach der Heirat starb sie.
    Die Knöchel der Hände des Arztes waren außergewöhnlich groß. Waren die Hände geschlossen, sahen die Knöchel aus wie Reihen unlackierter Holzkugeln, die groß wie Walnüsse und durch Stahlstangen verbunden waren. Er rauchte Maispfeife, und nach dem Tod seiner Frau saß er den ganzen Tag in seiner leeren Praxis an einem Fenster, das mit Spinnweben überzogen war. Nie öffnete er das Fenster. Einmal, an einem heißen Tag im August,
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