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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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Grotesken» nannte. Es wurde nie veröffentlicht, aber ich habe es einmal gesehen, und es machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich. Das Buch hatte einen zentralen Gedanken, der sehr merkwürdig ist und der mir immer in Erinnerung geblieben ist. Indem ich mich seiner entsinne, vermag ich viele Menschen und Dinge zu verstehen, die ich davor nie verstanden habe. Der Gedanke war vertrackt, aber eine simple Wiedergabe würde ungefähr so lauten: Dass es am Anfang, als die Welt jung war, eine ganze Menge Gedanken gab, aber nichts, was einer Wahrheit gleichkam. Der Mensch machte sich die Wahrheiten selbst, und jede Wahrheit setzte sich aus einer ganzen Menge vager Gedanken zusammen. Die Wahrheiten waren allenthalben auf der Welt, und sie waren alle schön.
    Der alte Mann hatte Hunderte solcher Wahrheiten in seinem Buch aufgeführt. Ich will gar nicht erst versuchen, Ihnen von allen zu erzählen. Es gab die Wahrheit der Jungfräulichkeit und die Wahrheit der Leidenschaft, die Wahrheit des Reichtums und der Armut, der Sparsamkeit und der Verschwendung, der Achtlosigkeit und der Hingabe. Zu Hunderten und Aberhunderten gab es Wahrheiten, und sie waren alle schön.
    Und dann kamen die Leute. Jeder griff, als er erschien, nach einer der Wahrheiten, und einige, die sehr stark waren, griffen sich gleich ein Dutzend.
    Es waren die Wahrheiten, die die Leute zu grotesken Gestalten machten. Der alte Mann hatte dazu
eine ziemlich ausgefeilte Theorie. Seiner Vorstellung nach wurde einer in dem Augenblick, in dem er eine der Wahrheiten für sich in Anspruch nahm, sie seine Wahrheit nannte und versuchte, danach zu leben, grotesk und die Wahrheit, die er sich zu eigen gemacht hatte, wurde unwahr.
    Sie werden ja selbst sehen, wie der alte Mann, der sein ganzes Leben lang geschrieben hatte und erfüllt war von Wörtern, Hunderte Seiten darüber schrieb. Das Thema nahm in seinem Kopf solche Bedeutung an, dass er Gefahr lief, selbst zu einer grotesken Gestalt zu werden. Er wurde es vermutlich doch nicht, und zwar allein deshalb, weil er das Buch nie veröffentlichte. Den alten Mann rettete das junge Wesen in ihm.
    Was den alten Tischler betrifft, der das Bett für den Schriftsteller richtete, so habe ich ihn nur erwähnt, weil er wie viele derer, die man ganz einfache Leute nennt, dem Begreiflichen und Liebenswerten an all den grotesken Gestalten im Buch des Schriftstellers am nächsten kam.

HÄNDE
    Auf der halb verrotteten Veranda eines kleinen Holzhauses, das am Rande einer Schlucht nahe der Stadt Winesburg, Ohio, stand, lief ein dicker kleiner alter Mann nervös auf und ab. Am anderen Ende eines langen Felds, das mit Klee eingesät war, aber nur eine dichte Fülle gelben Ackersenfs hervorgebracht hatte, konnte er die Landstraße sehen, auf der ein Wagen voller Beerenpflücker fuhr, die von den Feldern heimkehrten. Die Beerenpflücker, Jungen und Mädchen, lachten und schrien ausgelassen. Ein Junge in einem blauen Hemd sprang vom Wagen und versuchte, eines der Mädchen mitzuziehen, doch die kreischte und protestierte schrill. Die Füße des Jungen wirbelten auf der Straße eine Staubwolke auf, die der scheidenden Sonne übers Gesicht wehte. Über das lange Feld hinweg erklang eine mädchenhafte Stimme. «Ach, du, Wing Biddlebaum, kämm dir die Haare, sie fallen dir ja in die Augen», befahl die Stimme dem Mann, der eine Glatze hatte und dessen nervöse kleine Hände auf der kahlen weißen Stirn herumfuhren, als wollten sie eine wirre Lockenflut ordnen.
    Wing Biddlebaum, ständig verängstigt und verfolgt von einer gespenstischen Gedankenschar, betrachtete sich in keiner Weise als Teil des Lebens dieser Stadt,
in der er schon seit zwanzig Jahren lebte. Unter allen Menschen Winesburgs war ihm lediglich einer nahe gekommen. Mit George Willard, Sohn von Tom Willard, dem Besitzer des «New Willard House», verband ihn so etwas wie Freundschaft. George Willard war der Reporter des «Winesburg Eagle», und er ging manchmal abends die Landstraße entlang zu Wing Biddlebaum. Während der alte Mann also auf der Veranda auf und ab lief und nervös mit den Händen herumfuchtelte, hoffte er, George Willard käme und verbrächte den Abend mit ihm. Als der Wagen mit den Beerenpflückern fort war, ging er durch das Feld mit dem hohen Ackersenf, kletterte über einen Lattenzaun und spähte sehnsüchtig die Straße hinunter in Richtung Stadt. Einen Augenblick stand er so da, rieb sich die Hände und schaute die Straße hinauf und hinab, dann
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