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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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Zeitungsmann bist, dann ist das in Ordnung. Nur würde ich meinen, auch dafür musst du aufwachen, hm?»
    Tom Willard strebte forsch durch den Flur und eine Treppe hinab zum Büro. Die Frau im Dunkeln hörte ihn lachen und mit einem Gast sprechen, der sich mühte, einen trüben Abend hinter sich zu bringen, indem er auf einem Stuhl neben der Bürotür döste. Sie ging zurück zur Zimmertür ihres Sohns. Wie durch ein Wunder war die Schwäche aus ihrem Körper gewichen, und sie schritt kräftig aus. Tausend Ideen rasten ihr durch den Kopf. Als sie einen Stuhl scharren und eine Feder auf Papier kratzen hörte, machte sie erneut kehrt und ging durch den Flur zurück auf ihr Zimmer.
    Die besiegte Frau des Winesburger Hotelbesitzers hatte einen endgültigen Entschluss gefasst. Der Entschluss war das Ergebnis langer Jahre ruhigen und recht nutzlosen Nachdenkens. «Jetzt», sagte sie bei sich, «werde ich handeln. Mein Junge wird von etwas bedroht, und ich werde es abwehren.» Dass das Gespräch zwischen Tom Willard und seinem Sohn
ziemlich ruhig und normal verlaufen war, so als gäbe es zwischen ihnen eine Übereinkunft, machte sie rasend. Obwohl sie ihren Mann schon seit Jahren hasste, war ihr Hass bis dahin immer eher etwas Unpersönliches gewesen. Ihr Mann war lediglich Teil von etwas anderem gewesen, das sie hasste. Jetzt, durch die wenigen an der Tür gewechselten Worte, hatte die Sache seine Gestalt angenommen. Im Dunkel ihres Zimmers ballte sie die Fäuste und starrte wild um sich. Sie ging zu einer Stofftasche, die an einem Nagel an der Wand hing, entnahm ihr eine lange Schneiderschere und hielt sie in der Hand wie einen Dolch. «Ich werde ihn erstechen», sagte sie laut. «Er hat sich zur Stimme des Bösen gemacht, und ich werde ihn töten. Wenn ich ihn dann getötet habe, wird etwas in mir zerbrechen, und auch ich werde sterben. Es wird für uns alle eine Erlösung sein.»
    Als Mädchen und vor ihrer Ehe mit Tom Willard hatte Elizabeth in Winesburg einen etwas fragwürdigen Ruf. Jahrelang war sie «theaterbesessen» gewesen, wie es so schön heißt, und war mit Handelsvertretern, die im Hotel ihres Vaters abgestiegen waren, durch die Straßen stolziert, hatte grelle Kleider getragen und sie gedrängt, ihr vom Leben in den Städten zu erzählen, aus denen sie gekommen waren. Einmal hatte sie die Stadt verblüfft, indem sie Männerkleidung anzog und auf einem Fahrrad die Main Street entlangfuhr.
    In jenen Tagen war das hochgewachsene dunkle Mädchen sehr verwirrt gewesen. Eine große Ruhelosigkeit beherrschte sie, und die äußerte sich auf zweierlei Weise. Zum einen gab es da einen unsicheren Wunsch
nach Veränderung, nach einer großen, eindeutigen Entwicklung in ihrem Leben. Dieses Gefühl hatte ihre Gedanken auch Richtung Bühne gelenkt. Sie träumte davon, sich einer Truppe anzuschließen und durch die Welt zu ziehen, immer neue Gesichter zu sehen und allen Menschen etwas von sich zu geben. Des Nachts war sie manchmal ganz außer sich von dem Gedanken, doch wenn sie versuchte, mit Mitgliedern der Theatertruppen, die nach Winesburg kamen und im Hotel ihres Vaters abstiegen, über diese Angelegenheit zu sprechen, erreichte sie gar nichts. Sie schienen nicht zu wissen, wovon sie redete, oder wenn sie etwas von ihrer Leidenschaft zum Ausdruck bringen konnte, lachten sie nur. «So ist das nicht», sagten sie. «Es ist so langweilig und uninteressant wie hier. Das führt zu nichts.»
    Bei den Handelsvertretern, mit denen sie herumlief, und später bei Tom Willard lag die Sache ganz anders. Die schienen sie immer zu verstehen und mit ihr zu fühlen. In den Seitenstraßen des Städtchens, in dem Dunkel unter den Bäumen, nahmen sie ihre Hand, und da dachte sie, dass etwas Unausgesprochenes in ihr zum Vorschein kam und zu einem Teil von etwas Unausgesprochenem in ihnen wurde.
    Und dann äußerte sich ihre Ruhelosigkeit noch auf eine zweite Weise. Dabei fühlte sie sich eine Zeit lang erlöst und glücklich. Sie machte den Männern, die mit ihr herumliefen, keinen Vorwurf, und später machte sie auch Tom Willard keinen. Es war immer das Gleiche, es begann mit Küssen und endete, nach merkwürdigen, wilden Gefühlen, mit Frieden und hinterher
mit schluchzender Reue. Wenn sie schluchzte, legte sie dem Mann die Hand aufs Gesicht und hatte stets den gleichen Gedanken. Selbst wenn er groß und bärtig war, dachte sie stets, er sei plötzlich ein kleiner Junge geworden. Sie wunderte sich, dass er nicht ebenfalls
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