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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe
Autoren: Wolfgang Bergmann
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Gackern gegen die Wand schleudert – »Sind das nicht Vorzeichen beginnender Gewaltneigung, bahnt sich da ein Amoklauf an?« –, wie es mit jedem Handgriff, mit jedem feinfühligen Betasten der ängstigenden und aufregenden Objekte sich selber und die Welt kennenlernt, wie es beginnt, sie zu modellieren und mit viel Fantasie lustvoll umzugestalten, mal planvoll, mal ungestüm, diese schöne natürliche Freude schwindet unter der Ansammlung von elterlichen Ängsten.
    Dabei sind Kinder ganz auf einen sicheren und sichernden Kontakt zu den wichtigsten Menschen, Mutter und Vater, angewiesen. Erst deren bestätigender Blick auf ein Türmchen aus Bauklötzen oder ein anderes kindliches Kunstwerk verankert das unendlich plastische Erkunden und Erkennen verlässlich in der kindlichen Psyche. Wir wissen das heute aus der analytischen Entwicklungspsychologie ebenso wie in erstaunlicher Übereinstimmung mit der fortgeschrittenen Gehirnforschung. Der Mangel an elterlicher Souveränität und bestimmender Sicherheit behindert die Entfaltung von Körpergefühl,
Sprache und Selbstbewusstsein und macht die Kleinen unruhig und lustlos. 2
    Woher kommt diese Unsicherheit, verbunden mit dem hastigen Bestreben, um Gottes willen alles richtig und korrekt zu machen – während zugleich Therapeuten aller Art, Sprach- und Benimmtrainer und andere Erziehungscoachs die unsicheren Eltern umlagern und für jede minimale Abweichung die ein oder andere neuartige Methode anzubieten haben, meist begleitet von qualitativen Studien einer willigen und eifrigen Wissenschaft? Die Antwort ist leider etwas kompliziert, deshalb in Stichworten:
Die moderne Kleinfamilie ist eine Bindungs- und Harmoniegemeinschaft, fast immer weitgehend isoliert. Nachbarschaften wie auf dem Dorf oder dem großstädtischen Kiez gibt es nicht mehr. Der Verwandtschaftsverbund ist oft schon räumlich zerrissen, ohnehin sind die verwandtschaftlichen Bindungen in aller Regel schwach. Sie haben, anders als in früheren Generationen, keine ökonomische oder soziale Grundlage mehr. Das bedeutet zwar Freiheit von sozialer Kontrolle, das bedeutet auch Ruhe vor ewig besserwisserischen Onkeln und Tanten – und für die Kinder weniger extrem langweilige Verwandtschaftsbesuche an sonnigen Sonntagnachmittagen, die ich als Kind gründlich gehasst habe. Es bedeutet aber auch, dass ein verinnerlichtes, tradiertes Wissen darüber, was in der Kindererziehung richtig oder falsch ist, eben nicht mehr fließend in sozialen Kontakten, in Gesprächen
über den Gartenzaun oder an gemütlichen und geschwätzigen Kaffeenachmittagen, gleichsam naturwüchsig, weitergegeben wird. Dieser Verlust an tradiertem und verinnerlichtem Wissen, verbunden mit der relativen sozialen Isolation der Kleinfamilie, hat den enormen Aufschwung von »wissenschaftlicher« Pädagogik auf allen medialen Märkten hervorgebracht.
Junge Eltern sind Kinder einer fernseh- und medienorientierten Spaß- und Ego-Generation. Hier das Mann-Ego, dort das Frau-Ego – kein übergeordnetes Ideal von Ehe, keine soziale Norm bindet sie. Letzteres bedeutet zwar soziale Kontrolle, würde in Krisensituationen eine Paarbeziehung aber eben auch stützen. Vielmehr haben beide Partner in einer hoch individualisierten gesellschaftlichen Kultur gelernt, dass vor allem die Erfüllung ihrer jeweiligen Ich-Bedürfnisse ihr Selbstgefühl und ihre Selbstbewusstheit ausmacht und ihre Individualität garantiert. Die Folge: Beide müssen in ihrer Beziehung ihre Bedürftigkeiten fortwährend neu austarieren: »Erfüllst du meine Bedürfnisse nicht ausreichend, gibt es eigentlich keinen Grund, mit dir zusammenzubleiben.« Zugleich haben sie eine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Verlässlichkeit, am liebsten Treue bis in den Tod. Fragiler kann eine kleine soziale Einheit nicht sein. 3
Nun kommt das Kind. Das Kind ist das Einzige, das über die beiden Egoismen hinausgreift, in gewisser
Weise von ihnen ablenkt, von ihnen »erlöst«. Das Kind rückt, wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, ins Zentrum der modernen Familie. Es wird verwöhnt (nicht genau das zutreffende Wort: »Verwöhnen« kann man Kinder mindestens in den ersten zehn Lebensjahren eigentlich gar nicht – der ältere Begriff des Erziehungswissenschaftlers Urie Bonfenbrenner trifft’s präziser: »overprotective«, überbeschützt, von hastigen Sorgen umgeben, ziellos, initiativarm als Folge).
    Aber verwöhnte Kinder sind in aller Regel unglücklich, im Übrigen zeigen sie seltsamerweise
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