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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe
Autoren: Wolfgang Bergmann
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dieselben Verhaltensprobleme wie vernachlässigte Kinder. Kinder wollen sich in einem möglichst geordneten Umfeld zurechtfinden und diese äußeren Ordnungen verinnerlichen, sie wollen sich in den Eigenarten, Gesten, Blicken, Stimmen ihrer Eltern »spiegeln«. Das Gefühl jedoch, dass sich die ganze Welt im Wesentlichen um sie dreht, raubt ihnen dieses Gegenüber. So rutschen sie in dieselbe Egozentrik, in der sich ihre Eltern schon verfangen haben.
Das Kind im Zentrum der Partnerschaft – das kann nicht gut gehen. In der Beratung trifft man immer wieder junge Leute, die sich in erster Linie als Mutter oder Vater, dann erst als Frau und Mann, also als geschlechtlich-attraktive Wesen, und ganz zuletzt erst als Paar empfinden und selber definieren. Kinder werden in eine Art – psychologisch gesprochen – »kollusive« Liebe eingebunden.
    Du bist mein Ein und Alles – das heißt zum einen zwar, dass moderne Eltern in der Regel tatsächlich einfühlsamer und liebevoller mit ihren Kindern umgehen als Eltern früherer Generationen. Es heißt aber auch, dass das Kind Sinnersatz, Selbstverwirklichungsersatz für Mutter und Vater ist. Elternliebe gewinnt einen narzisstischen Charakter. Sogar die wenigen sozialen Orientierungen, die den Eltern noch als verbindlich erscheinen, werden nur zögernd an das Kind herangetragen – Streit wird ängstlich vermieden.
    Bei vielen jungen Eltern lähmt die Angst davor, von ihrem Kind nicht mehr »geliebt zu werden«, die Konfliktfähigkeit. Paradoxerweise werden die familiären Auseinandersetzungen dadurch nicht beruhigter und seltener, sondern lediglich »ungekonnter«.
Verschärft wird diese schwierige Konstellation durch die Zukunftsangst der Eltern. Nie wusste eine Generation von Erwachsenen so wenig von der Zukunft ihrer Kinder. Woraufhin soll ich mein Kind erziehen? Nichts ist eindeutig, weder die Erziehungsziele sind es noch die verinnerlichten moralischen und sozialen Normen, die diese Ziele begründen müssten. An ihre Stelle tritt ein diffuser, lärmend über zahllose Medien verbreiteter Begriff von Bildung, der weitgehend unreflektiert verwendet wird.
    Bildung wird vorwiegend als eine Art Ansammlung von Wissen verstanden, als solle eine ganze Kindergeneration auf Jauchs RTL-Millionärsspiel vorbereitet werden. Damit einher geht ein ebenso verschwommener
Begriff von »pädagogischer Förderung«. Je ungenauer er ist – nicht nur bei Eltern, bei Politikern und Pädagogen sieht’s nicht viel besser aus –, desto allgemeiner kann er sich ausbreiten und propagiert werden. Fördern auf Biegen und Brechen.
Nun haben wir alle Motive beisammen: Das Kind wird gefördert, damit es ein kluges Kind wird, ein ganz besonderes. Die narzisstisch geprägte Bindung zum Kind geht mit einem diffusen Verständnis von »Förderungen jeglicher Art« Hand in Hand. Eltern vergleichen schon im Vorschulalter ihre Kinder, Maßstab ist das frühe Lernen. »Kids auf der Überholspur« oder »Little Giants« heißen privat betriebene Einrichtungen der »Exzellenzpädagogik«. Sie haben lange Wartelisten.
    Die Kleinen, eigentlich auf Verwöhnung und ein weiches Erziehungsklima eingestellt, werden plötzlich mit unterschwellig harten Leistungsforderungen konfrontiert. »Schau mal, der Daniel schreibt schon schön das Z, du bist erst beim E. Dabei ist Daniel drei Monate jünger als du.« Aus den Verwöhnungserwartungen – »Die ganze Welt ist eigentlich nur dazu da, um mich zu versorgen« – stürzen sie in einen ängstigenden Leistungsvergleich. Moderne Kindheit ist, von orientierungslosen und gleichzeitig übermäßig an ihre Kinder gebundenen Eltern angetrieben, von unaufhörlichen Vergleichsängsten bestimmt. In der Grundschule werden diese durch die frühe Selektion der Kinder – »Du auf die Hauptschule, du aufs Gymnasium« – weiter
intensiviert, nachmittags beim Ballett oder Tanzunterricht fortgeführt. Bevor sie sich als soziale Wesen richtig erprobt und kennengelernt haben, lernen schon die Kleinsten zu rivalisieren.
    Die Kinder sind nicht nur das »Zentrum« der Familie. Sie müssen diese Familie auch nach außen repräsentieren, sie müssen mit ihren Begabungen, ihrem Wohlverhalten usw. deutlich machen, dass diese Familie eine gute, heile Familie ist und sie selber ganz außergewöhnlich begabte oder – neueste pädagogische Wortentdeckung – »originelle« Kinder sind. Eingesperrt in ihre unbewusst narzisstischen Motive, geängstigt von diffusen Zukunfts- und Erziehungsvorstellungen
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