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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe
Autoren: Wolfgang Bergmann
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und zusätzlich getrieben von einer öffentlichen Debatte, die Kindheit als eine einzige Katastrophe erscheinen lässt, fahren Eltern ihre Kleinen hektisch von der Nachhilfe zum Ballett und danach zum »therapeutischen Reiten«. Jede Einrichtung trägt ein pädagogisch ausgetüfteltes »Konzept« vor sich her. So verlieren sie die natürliche Freude an der Entwicklung ihrer Kinder und den gelassen-liebevollen Kontakt mit ihnen. Die Kleinen werden unruhig und immer selbstbezogener dabei. Mehr denn je sind die Generationen heute eng verbunden – und stehen ratlos voreinander.
    1
    Ich treffe in meiner beratend-therapeutischen Praxis solche Eltern regelmäßig an. »Unser Kleiner ist schon zweieinhalb, wahrscheinlich hat er eine Sprachentwicklungsstörung.« (Moderne Eltern verfügen über den Gebrauch zusammengesetzter Substantive so locker wie früher nur Soziologieprofessoren oder Peter Sloterdijk.) »Er müsste doch wenigstens Subjekt und Prädikat ordentlich auf die Reihe bringen, aber er spricht grad mal einzelne Worte«, klagen sie und erkundigen sich, ob vielleicht die eine oder andere Sprachförderung oder sonst eine Therapie angezeigt sei. »Vielleicht ist es ja auch was Seelisches!« Ich schaue auf das Kind, das soeben dabei ist, quietschvergnügt meine wertvollen afrikanischen Kunstgegenstände auseinanderzunehmen und antworte völlig unprofessionell: »Das macht nichts. Ich selber sprach mit knapp drei Jahren kaum ein Wort, stieß nur drei herrische Urlaute aus, kam damit glänzend über die Runden und bin heute auf Podiumsdebatten und Vorträgen nur mit vorgehaltener Schusswaffe zum Schweigen zu bringen.«
    2
    Er ist so unproduktiv, dieser ewig ängstlich-kontrollierende Blick. Überflüssig ist er auch. Die Zeitspannen der sprachlichen, motorischen und sonstigen Entwicklungen sind sehr viel dehnbarer und individuell unterschiedlicher, als moderne Eltern auch nur ahnen. Das ewig zitierte »Zeitfenster« der Sprachentwicklung beispielsweise, das heute allen Elternpaaren bekannt ist und das sich, einem unausrottbaren Gerücht zufolge, mit dem dritten Lebensjahr unerbittlich schließt, gibt es nach lernpsychologischer Einsicht und aus Sicht der Hirnforscher tatsächlich: Es steht der kindlichen Entwicklung ungefähr bis zum neunten, zehnten Lebensjahr offen!
    3
    Deshalb der Boom kirchlicher Trauungen. Das Ritual soll ersetzen, was nicht mehr als innere Gewissheit erworben werden kann – doch wenn der Pfarrer von der mystischen »Leibeinheit von Mann und Frau« spricht oder zum Ende der Zeremonie sein »Was Gott gefügt hat, soll der Mensch nicht trennen« murmelt, dann wissen junge Paare nicht wirklich, was gemeint ist. Ich habe im Übrigen den Verdacht, der Pfarrer weiß oft auch nicht ganz genau, wovon gerade die Rede ist. Kurzum: Die sozialkulturelle Entwicklung zu einer hochgradigen Individualisierung »überfordert die Menschen«, so Ralf Dahrendorf in einem seiner letzten Interviews.

    Elternliebe macht viel zu oft ängstlich
    ELTERN LIEBEN IHRE KINDER. Wäre es nicht so, wäre das Menschengeschlecht längst ausgestorben. Aber Liebe ist schwierig. Warum? Weil sich in liebevolle Gefühle so leicht egoistische Motive einschleichen. Man merkt es gar nicht so richtig.
    Wenn Eltern einer Zweieinhalbjährigen allen Ernstes meinen, dass ihr Kind jetzt aber ganz schnell Englisch lernen müsse, weil es sonst im Wettbewerb mit anderen Kindern rettungslos zurückbleibe – was ist das? Liebe? Sorge um das Kind? Aber warum sorgen sie sich nicht mindestens ebenso um eine frohe unbeschwerte (und nicht an Leistung gebundene) Kindheit?
    Woher kommt diese übermäßige Sorge, die sich so bedenklich an den vorherrschenden Geist der modernen Kultur anschließt? Woher kommt diese Rivalität (mein Kind ist mindestens so schlau wie die anderen), dieser Leistungsgedanke (mein Kind soll alles sofort lernen) und eine diffuse allgemeine Zukunftsangst, die Eltern auf ihre Kinder verlagern? Woher kommt es, dass so wenig Gefühl für die Freiheit des Kindes, für das frohe uneingeschränkte Erobern seiner kleinen Welt, seiner Entfaltung von Sinn und Verstand vorherrscht?
    Wir begegnen einem schwierigen Sachverhalt. Liebe ist nicht autonom, auch die der Eltern nicht. Sie orientiert
sich an, ja sie läuft den Vorgaben der allgemeingültigen, dominierenden Kultur hinterher. Und wenn diese Kultur Leistung will und wenig Sinn für kindliche Freude und Freiheit hat, dann sickert das in die Sorgen und Bemühungen auch liebevoller
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