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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
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meiner Mutter mit beiden Händen ein paarmal über den Rücken, worauf die erneut und diesmal hemmungslos zu weinen begann.
    Ich musste nicht fragen, was los war und worüber sie geredet hatten, hätte mich auch nicht getraut. Es war klar zu sehen, dass ich vollkommen danebengelegen war, die ganze Zeit. Meine kleinen, wutschnaubenden, rachsüchtigen Mutterbeschreibungsfantasien waren Versuche gewesen, sie zu denunzieren. In meinem Entwurf von ihrem Leben sollte sie das BDM -Mädel mit den SS -Brüdern sein, damit ich eine Berechtigung hatte, mich zu entrüsten. Die lebenslange Verräterin sollte sie sein, die meinen Vater getäuscht und ihm ein trostloses langes Eheleben lang nur vorgespielt hat, die Seine zu sein, während sie all die Jahre Roberts Frau gewesen war. Kalt und abweisend und Distanz fordernd sollte sie sein, aber sie war es nicht. Ich war es.
    Wie das Mädchen und die Frau da in der Küche standen, das war der Augenblick, in dem alles zu verschwinden begann. Was ich mir zusammengereimt hatte in meinem Kopf, löste sich auf. Was ich zusammengekleistert hatte, um Halt zu finden, wurde haltlos. Was gewesen war, war nur vermeintlich gewesen. Eine deprimierende Erfahrung, denn ich wusste, dass mir nicht genug Zeit bleiben würde, die überraschend entstandene Leere neu aufzufüllen.

78
    Psalmengesang, wie immer, ging dem Ereignis voraus und umrahmte es. Sechs Jahre lang war der Leib des Heiligen Mannes in der Erde gelegen, nun war es so weit. Hunuwulf, der gerade mit einer großen Streitmacht Rugiland zerstört und dessen letzten König vertrieben hatte, brachte Anordnungen seines Bruders Odoaker, des Beherrscher Westroms. Die lateinisch sprechende Bevölkerung nördlich der Alpen habe Heim und Herd und Grund und Boden aufzugeben und sich geschlossen ins Mutterland aller Lateiner zu begeben, Italia. Ein Teil der Romanen gehorchte dem Befehl und ergab sich in diese systematische Deportation. Eugipp behauptet, es seien alle Bewohner aus Noricum hinausgeführt worden wie aus dem Haus der ägyptischen Knechtschaft, herausgeführt aus den Ausplünderungen der Barbaren, die sich beinahe Tag für Tag wiederholten, aber das stimmt nicht, Gräberfunde aus den dem Auszug der Romanen folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten belegen eindeutig, dass es auch unter den Awaren und Slawen und danach Baiern einen hohen romanischen Bevölkerungsanteil gegeben haben muss. Zu denen, die fortzogen, zählte die Klostergemeinschaft des Severinus.
    Und Severinus selbst natürlich, seine sterblichen Überreste. Sie sangen und beteten, als sie die Grabstätte aufgruben, und dann warfen sie sich aus übergroßer Freude und Verwunderung der Länge nach auf die Erde. Es ist dies eine seltsame Stelle in der Vita . Dreiundvierzig Kapitel lang hat Eugipp aus der Position eines entfernten Berichterstatters geschrieben, als einer, der Zeitzeugen befragt und externe Quellen verwendet hat. Jetzt wechselt er für ein paar Sätze in die Rolle eines Icherzählers. Nach der Öffnung der Grabstätte umfing uns alle, die wir im Kreise um sie standen, ein so lieblicher Wohlgeruch, dass wir uns zu Boden warfen. Wir fanden den ganzen Körper vollkommen erhalten vor, den Leichnam ebenso unversehrt wie Bart und Haupthaar. Sieht aus, als wollte er mit dem kleinen Schriftstellertrick des Perspektivenwechsels Authentizität schaffen und Glaubwürdigkeit. Ich baute eine kleine Spekulation ein in den Katalogtext, darüber, ob es sich bei diesem nur einen Absatz währenden Ich und Wir des Eugipp um ein raffiniertes poetisches Verfahren handle, oder ob es einen Beleg für die Vermutung darstelle, Eugipp, der spätere Abt des Klosters Lucullanum bei Neapel, sei Mitglied der Severinsgemeinschaft im norischen Mautern gewesen, möglicherweise schon zu Lebzeiten des Heiligen Mannes, sicher jedoch im Jahr des Auszugs der Romanen aus Noricum.
    Lassen Sie es weg, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber. Weglassen ist ohnehin immer empfehlenswert. Perfektion ist erreicht, wenn man nichts mehr weglassen kann, sagt Da Vinci.
    Bei Dan Brown, fragte ich, oder der echte Leonardo?
    Zugegeben, sagte er, das Zitat ist nicht wirklich belegt. Und dann wies er mich auf einige weitere Passagen im fertigen Aufsatz hin, den ich ihm gemailt hatte mit dem Dateinamen Katalogtext, Rohversion 1. Er schwadronierte eine Weile herum über die unwiderstehliche Kraft des Geschichtenbeschwörens und die letztendliche Verfügungsgewalt des Erzählers über das zu Erzählende, ehe er sagte, was
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