Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land
Autoren: Walter Kohl
Vom Netzwerk:
wegen der Holperfahrt, zwei Stunden bis zum Lazarett, mit höchstem Tempo über Stock und Stein. Größer als der Schmerz war die Angst, dass er sie doch noch erwischt. Er. Der Russe.
    Manchmal fingen sie damit auch im Wirtshaus an, an den Sonntagnachmittagen, wenn der Familienspaziergang in der Gaststube ausklang. Der Lehrer aus dem Nachbardorf hatte die wildeste Geschichte. Lungendurchschuss, mit seinen zwei Daumen habe er Einschuss- und Austrittsloch zugehalten und sei eine Stunde zu Fuß zum Verbandsplatz marschiert. Wenn er genug getrunken hatte, sprang er auf, während er erzählte, marschierte in der Gaststube herum zum Gaudium der Trinkenden, im Stechschritt stelzte er auf und ab zwischen den Wirtshaustischen, presste einen Daumen auf seine Brust, den anderen auf den Rücken, gleich unter dem Schulterblatt, ließ seine Schuhsohlen krachen auf dem Wischboden und schrie dabei: Eine Stunde! Eine Stunde! Bei minus fünfzehn Grad!
    Hast gewonnen!, brüllten die anderen und lachten ihn aus, wenn er sich auf den Sessel fallen ließ und mit bösem Blick in den Raum stierte. Niemand glaubte seine Geschichte. Wir Kinder ahmten ihn nach, wenn wir draußen zwischen den Zapfsäulen der benachbarten Tankstelle spielten. Eine Hand auf der Brust, die andere auf dem Rücken paradierten wir und riefen kichernd: Lungendurchschuss! Eine Stunde! Bis es dem Schäferhund des Tankstellenpächters zu viel wurde, er stand auf und bellte ein paar Mal in unsere Richtung, worauf wir kreischend zurückliefen in die Wirtshausstube.

8
    Noch immer saß ich am Stadtrand von Linz in einer billigen Pension und brachte keine ordentliche Verbindung zum Internet zustande. Ich rief den Sprecher meiner Auftraggeber an, machte mir selbst vor, dass der Anruf den Zweck hatte, ihn von diesem Problem in Kenntnis zu setzen. In Wahrheit wollte ich vorfühlen, ob ich ihm eine der drei Einleitungen würde andrehen können.
    Wo sind Sie?, war seine erste Frage. Seit ich in Österreich bin, ist es jeweils seine erste Frage. Er ruft mich mindestens einmal täglich an und erkundigt sich über den Fortgang meiner Bemühungen. Jedes Gespräch beginnt mit einem Wo sind Sie.
    Linz, sagte ich, und dass ich in der Nacht bereits einige Variationen einer möglichen Einleitung ausprobiert hätte. Er war neugierig. Dass ich mit der missglückten Totenerweckung zu Quintanis beginnen wolle, sagte ich. Mit einem wunderschönen ersten Satz. Barfuß, wie er es immer hielt, sommers wie winters, stapfte Severinus durch die Einsamkeiten der norischen Wälder, allein und in tiefste Gedanken versunken ging er drei Tage lang von Iuavo über Batavis nach Quintanis.
    Salzburg, sagte er gepresst. Salzburg. Passau. Künzing.
    Ja. Es wäre ein schöner Beginn. Nimmt sozusagen mit einem kleinen kurzen Kameraschwenk die ganz große Bewegung seines gesamten Wirkens hierzulande voraus. Der Heilige Mann kommt aus dem Süden, bewegt sich so weit westlich wie möglich und zieht dann die Donau entlang nach Osten, ins Herz des niederösterreichischen Teils der Landesausstellung, nach Favianis. Mautern.
    Er sagte eine Weile nichts. Ich hörte ihn atmen. Dann fragte er: Wieso beginnen Sie mit Künzing?
    Dass es wegen der Entfernung ist, kann ich ihm nicht sagen. Ich will deswegen mit Künzing beginnen, weil es am weitesten entfernt ist von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Am weitesten entfernt von dem Kriegerdenkmal mit meinem Namen. Darum fange ich an mit Quintanis. Obwohl mir klar ist, dass ich mich selbst belüge, denn Künzing ist von dem Dorf, das ich fürchte, hundertvierundvierzig Kilometer entfernt, Autobahnkilometer, wenn man über Suben fährt, und nur hundertdrei Kilometer, wenn man die Nibelungenbundesstraße nimmt, über Engelhartszell und Passau.
    Mautern dagegen ist hundertneunundvierzig Kilometer entfernt von dem Kriegerdenkmal. Aber Künzing erscheint mir trotzdem am sichersten. Denn Künzing ist nicht Österreich, Künzing gibt mir wegen der Notwendigkeit, eine Grenze zu überqueren, das Gefühl der größeren Entfernung. Auch wenn man gar nicht mehr bemerkt, wann man die Grenze überschreitet.
    Das alles kann ich ihm nicht erklären. Darum sage ich, dass es mir logisch erscheine, die stete gewaltige Pendelbewegung, mit der Severinus die Donau auf- und abgezogen war, zwischen Quintanis und Favianis, hin und her über Jahre, im Westen beginnen zu lassen. Der Beginn im Westen schiene mir auch deswegen passend, weil am Ende auch die letzte Bewegung des Heiligen Mannes von West
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher