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Orchideenstaub

Orchideenstaub

Titel: Orchideenstaub
Autoren: Tanja Pleva
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Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.
    Was du tust, tue mit Überlegung und bedenke das Ende.
     
     
     
    PROLOG
     
     
     
    Die fünf politischen Gefangenen schlurften mit hängenden Köpfen über den Hof. Alle wussten, welches Schicksal sie gleich ereilen würde, doch keiner sagte ein Wort und keiner zeigte seine Angst. Jeder war mit seinen Gedanken allein, wie in der Stunde der Geburt und in der Stunde des Todes. Allein. Es war bitterkalt, die gefrorenen Eisschollen knirschten, zersprangen wie Glas unter ihrem Gewicht und hinterließen spinnennetzartige Muster.
    Die ausgemergelten Körper steckten in verschlissener Kleidung, die viel zu dünn für diese Jahreszeit war, aber es kümmerte keinen, außer die Träger selbst. Frieren gehörte zur Tagesordnung, genauso wie Hunger und Angst. Angst vor der kommenden Minute, der kommenden Stunde, dem kommenden Tag. Wer war der Nächste, wann war man erlöst.
    Die kleine Kolonne setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen und steuerte direkt auf das graue Gebäude mit dem ,Zimmer’ zu, um das sich viele Geschichten rankten. Eine furchteinflößender als die andere. Nur eines war sicher: Niemand hatte es bisher lebend verlassen.
    Er war der Letzte in der fünfmannstarken Kolonne. Nein, der Vorletzte, wenn man den Aufseher hinter ihm mitzählte. Die Waffe im Anschlag, den scharfen Hund neben sich an einer kurzen Leine würde dieser nicht zögern zu schießen, wenn jemand einen Schritt aus der Reihe tanzte. Erst vor drei Tagen war er Zeuge einer solchen Szene geworden. Der Mann, der versucht hatte zu flüchten, war mit einem einzigen Schuss niedergestreckt worden. Die Hunde hatten den Rest erledigt, so sparte man sich das Futter für die Tiere.
    Er überlegte, den relativ schnellen Tod zu wählen, oder der Ungewissheit ins Auge zu blicken. Er lief weiter. Die Hoffnung, die ihn seit Monaten am Leben erhielt, war das Letzte was sterben würde. Sie war nur allzu menschlich in diesen Zeiten.
    Schließlich betraten sie das Gebäude. Die wohltuende Wärme, die ihm hier entgegenschlug, ließ sofort Leben in seine fast abgestorbenen Gliedmaßen zurückkehren. Sie schwollen an und ein unangenehmes Jucken überzog seine gerötete Haut.
    Sie wurden in einen Vorraum des ,Zimmers’ gebracht, in dem auf einfachen Holzbänken zwei Frauen saßen.
    Kaum waren sie der Aufforderung nachgekommen, sich ebenfalls zu setzen, ging die Tür auf und ein hochgewachsener, äußerst gepflegter Mann in einem weißen Kittel beäugte die Neuankömmlinge. Über sein scharfkantiges Gesicht huschte ein Lächeln der Zufriedenheit. Er gab einer der Frauen ein unmissverständliches Zeichen, einzutreten. Erst als sie sich erhob, konnte man sehen, dass sich eine Wölbung unter ihrer Kleidung abzeichnete. Die meisten hatten vom Hunger und der mangelnden Ernährung aufgeblähte Bäuche, aber diese Frau sah überraschend gut genährt aus.
    Der Arzt ließ die Tür auf, sodass alle mit ansehen konnten, was nun in dem Zimmer geschah. Zwei Assistenzärzte schnallten die entkleidete Frau mit gespreizten Beinen auf einer Liege fest. Sie gab keinen Laut von sich, erduldete stumm die Entwürdigungen, und als sie ihren Kopf zur Seite drehte, trafen sich ihre Blicke. Dieser hoffnungslose, seinem Schicksal ergebene Ausdruck in ihren Augen, war für ihn kaum zu ertragen.
    Er sah auf den grauen Betonfußboden vor sich und schämte sich für seine Feigheit. Warum ging er nicht dazwischen? Warum lehnte er sich nicht auf? Was war los mit ihm und den anderen, die ebenfalls den Blick gesenkt hatten, um nicht weiter Zeuge dieser würdelosen Situation zu sein? Jeglicher Widerstand seiner Leidensgenossen schien gebrochen zu sein.
    Ein markerschütternder Schrei hallte durch die beiden kleinen Räume und riss alle Anwesenden aus ihrer Lethargie.
    Der Arzt hielt einen Fötus von etwa 15 cm kopfüber in die Höhe. Aber das kleine Wesen gab keinen Laut von sich. Einstimmiges Kopfschütteln der umstehenden Ärzte, dann wurde der kleine Körper achtlos in die Mülltonne geworfen.
    Den Gefangenen in dem Vorraum stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Die Augen vor Ungläubigkeit weit aufgerissen, die Münder zu einem stummen Schrei geöffnet. Das erste Mal, seit sie diesen Raum betreten hatten, sahen sie sich nun an. Keiner wagte etwas zu sagen, keiner wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Keiner wollte der Nächste sein.
    Das Ungeheuer in Weiß wischte sich die blutverschmierten Hände am Kittel ab und drehte sich
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