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Honecker privat

Honecker privat

Titel: Honecker privat
Autoren: L Herzog
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Zitrone zum Kaffee
    Der Tag begann mit einer Zitrone. Pur und ungesüßt.
    Allein der Anblick des grüngelben Saftes, den ich in das Glas goss, zog mir alle Poren zu. Doch mein Chef kippte das saure Zeug in einem Zug hinunter, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er absolvierte diese Übung so diszipliniert und konzentriert wie einen Staatsbesuch: kontrolliert bis in die Haarspitze. Seit wann und wie lange er das tat, vermag ich nicht zu sagen. Aber von 1972 bis 1984, als ich sein, tja, persönlicher Kellner war, trank er täglich diesen Vitamin-C-Cocktail.
    Warum ich vor dem Gebrauch der Bezeichnung »Kellner« für meine Dienststellung ein wenig zögere? Das werde ich noch erläutern. Vorrangig hier scheint mir die Erörterung der Frage, warum er jeden Morgen mit Zitronensaft begann. Für mich wäre der Tag im Eimer gewesen. Ich hätte gar nicht anders als sauer sein können, sauertöpfisch hätte ich mein Tagwerk verrichtet. Ihn allerdings focht das nicht an. Erstaunlich. Die Zitrone schien keinen Einfluss auf seine Laune zu haben. Hatte er überhaupt so etwas wie eine Laune?
    Eine Stimmung war bei ihm kaum auszumachen, folglich auch nicht deren eventuelle Schwankungen. Ich gehörte zum Mobiliar. »Morgen« oder »Tach«, dann setzte er sich, und ich trug auf. Kein persönliches Wort, nichts, auch nicht, wenn er sich vom Tisch erhob. Ich hatte stets den Eindruck, dass für ihn die Tätigkeit »Speisen« eher eine lästige Notwendigkeit war. Jedes Essen, egal, ob nun privat oder bei einem Bankett. Ein Genussmensch war er bestimmt nicht. Und darum waren auch die Personen um ihn herum, die mit ihm bei Tische saßen oder vorlegten wie ich, nun ja, ich will nicht sagen »lästig«, doch irgendwie so unnötig wie das Essen selbst.
    Die Speisen hatten drei Bedingungen zu erfüllen: Sie mussten einfach sein, sie mussten heiß sein (selbst bei Bier oder Cola durfte die Temperatur nicht unter der des Raumes liegen), und sie mussten vertraut, also irgendwie deutsch sein wie. Das erklärt beispielsweise, dass ich selbst nach Moskau mitmusste – in jenen zwölf Jahren war das um die vierhundert Mal. Mich überraschte diese Menge, als ich in meinen Kalendern jetzt die Dienstreisen zählte. In jener Zeit habe ich ihn auf allen Auslandsreisen begleitet, bekocht und bedient. Auch dazu vielleicht später mehr.
    Ich glaube, dass seine eingeschränkte Fähigkeit, wirklich zu genießen, mit seiner Biografie zusammenhing. Er war 23, als ihn die Nazis einsperrten, und keine 33, als er in die zerstörte Freiheit entlassen wurde. Im Zuchthaus wird keiner zum Gourmet, und in der Nachkriegszeit stand meist Hunger auf dem Speiseplan. In Brandenburg hat er sich wohl auch das Esstempo angewöhnt. Das war extrem hoch. Ich will nicht behaupten, dass er schlang, aber wesentlich schneller als die anderen war er schon. Das führte, nur nebenbei, gelegentlich zu Problemen, wenn er mit anderen speiste. (Ich rede jetzt nicht von Staatsbanketten und Empfängen, da hielt er sich, nicht zuletzt wegen einer gewissen Unsicherheit, an den Rhythmus der anderen.) Er hatte bereits den Teller mit der Vorsuppe geleert, als seine Mitstreiter gerade erst damit begonnen hatten. Da sich aber niemand getraute, länger als der Chef bei einem Gang zu verweilen, gingen die meisten Teller halbvoll in die Küche zurück.
    Und warum heiß? Der Grund war vermutlich der gleiche: Im Knast war die Küche kalt.
    Das ist meine Interpretation, denn darüber habe ich mit ihm nicht geredet. Wie ich überhaupt nicht mit ihm gesprochen habe. Ich hatte Weisung, nur zu antworten, wenn ich gefragt werde. Und da er mich nie fragte, gab es auch keinen Anlass, dass wir uns unterhielten. Im Nachhinein finde ich es nicht nur merkwürdig, ich bedauere es. Wer hätte mich daran hindern können, mich zu diesem oder jenem ihm gegenüber zu äußern? Nur er selbst. Er aber war nicht der Typ des unnahbaren, distanzierten Wichtigtuers, der beleidigt gewesen wäre, hätte ich ihn von der Seite angesprochen. Nein, ich servierte nur und schwieg.
    Und dabei hielt mich mancher gar für eine Schlüsselfigur, die sein Ohr hatte. Ich entsinne mich eines Besuches in seinem Wahlkreis in Karl-Marx-Stadt, wo mich ein höherer Funktionär zunächst ziemlich herablassend behandelte. Ich war einer der vielen Namenlosen in der Entourage des Generalsekretärs, der in keinem Protokoll geführt wurde. Als er aber irgendwie mitbekam, dass ich ständig mit seinem Chef Umgang hatte, veränderte sich sein Verhalten
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