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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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anfingen zu läuten. Es war Samstag, und dann war um sechs Uhr ein Gottesdienst.
    Wir verstanden, dass wir in einer Viertelstunde mehr wissen würden. Vielleicht, ganz vielleicht, würden Nancy und Jeckyll gleich in die Milchstraße einbiegen. So wie es den ganzen Sommer über gewesen war: erst Jeckyll, danach Nancy.
    Ich hoffte, sie würden alle beide erscheinen, aber es wäre mir auch recht, wenn keiner von beiden käme.
    Fünf Minuten lang saßen wir da und schauten uns um, als wäre nichts los.
    Dann schoben wir uns ein bisschen vor, um über die Mauer spähen zu können. Wir hielten die Luft an und warteten weiter.
    Sie kamen nicht.
    Als das Glockenläuten in Bimmeln überging, ungefähr drei Minuten vor sechs, trat ein neues Mädchen in unser Leben.

DAS MÄDCHEN
    »Wer ist das?«, sagte Bossie und deutete auf das Mädchen, das aus der Sandstraße in unsere Richtung lief. Sie sah älter aus als Geesje und war ansonsten mit keinem einzigen Mädchen zu vergleichen, das wir kannten.
    Sie kam auf langen, dünnen Beinen die Milchstraße entlang. Sie lief quer über die Straße. Sie trug Slipper. Ihre Haare waren fast gelb und sie sang für den Hund, den sie auf dem Arm trug. Der Hund war ihr Baby.
    Ich meinte von Weitem zu sehen, dass ihr Baby lang war und einen schon grauen Kopf hatte. In dem Moment, als sie unter uns vorbeilief, sah ich einen Hund, der aussah wie Jeckyll.
    »Nein, nein, nein«, sagte ich.
    Bossie nickte. Er zog die Mundwinkel nach innen.
    »Ja, ja, ja«, sagte er. »Doch.«
    Geesje, die eher auf die gelben Haare des Mädchens geachtet hatte als auf das Baby, sagte: »Was war denn das?«
    Ich sagte: »Er lebt noch.«
    Bossie versuchte nicht zu blinzeln. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich habe ihn auch gesehen. Jeckyll lebt noch. Das ist eine gute Nachricht, finde ich.«
    Wir beugten uns alle drei vor, um noch einen Blick auf das Mädchen mit den langen Beinen zu erhaschen.
    Sobald sie um die Ecke war, konnte Bossie nicht schnell genug die Mauer hinunterkommen.
    »Los«, sagte er.
    »Wohin gehst du?«, sagte Geesje.
    »Wir brauchen einen Beweis.«
    »Einen Beweis?« Sie sah erstaunt aus, hielt sich aber schon mit beiden Händen an der Mauer fest, bereit hinunterzuklettern.
    »Wer kommt mit mir mit?«, sagte Bossie.
    »Wenn wir nur rechtzeitig zum Essen zu Hause sind«, sagte ich.
    »Es wird nicht lange dauern.«
    Geesje und ich folgten Bossie auf dem Fuß.
    Am Ende der Milchstraße blieben wir alle drei stehen und spähten um die Ecke.
    Das Mädchen war nicht um die Anlage herumgelaufen, wie ich es erwartet hatte. Sie hatte den Weg neben der Kirche gewählt. Sie ging ziemlich schnell auf ihren Stelzenbeinen.
    Wie in einem Kinofilm schlichen wir ihr nach.
    Wenn sie in einer Straße verschwand, kamen wir zum Vorschein. Wie Räuber huschten wir zur anderen Straßenseite. Wir tauchten bei passender oder unpassender Gelegenheit unter einen Torbogen oder warfen uns ins Gebüsch.
    Von den zehn kleinen Reihenhäusern liefen wir zu den größeren Reihenhäusern, dann zu den Häusern, die aussahen wie siamesische Zwillinge, mit einem Garten drum herum.
    Wir folgten dem Mädchen mit den langen Beinen bis in eine Gegend, in die wir sonst nie kamen, die Gegend um den Unterholzweg, wo Linden in den Alleen wuchsen. Hinter dem hellen Grün standen alte Villen mit riesigen Gärten.
    Das Mädchen lief eine Auffahrt hinauf. Daneben wuchsen riesige Sträucher, unter die man ganze Hütten bauen konnte. Dort wuchsen Clubhäuser, einfach nur so, ohne dass man dazu Lumpen oder Kartons gebraucht hätte.
    Wir versteckten uns in einem Rhododendron und schlichen von einem Strauch zum nächsten, bis wir dicht bei dem Haus waren, zu dem das Mädchen ging. Dort legten wir uns auf den Bauch und spähten durch die Blätter hinaus.
    »Was für ein Haus«, flüsterte Geesje.
    Wir konnten den Innenhof sehen. Wir waren so nahe, dass wir die Leute, die dort um einen Tisch saßen, fast riechen konnten.
    Sie hatten glatte, zurückgekämmte Haare. Sie tranken und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Klaviermusik war zu hören. Neben dem Tisch war eine hohe Doppeltür, die offen stand.
    Von der Stelle, an der wir lagen, schauten wir einfach ins Haus hinein. Nichts versperrte uns die Sicht. Keine Stühle oder Tische, keine Schränke. Wir schauten einfach von vorn bis hinten durch das Haus. Salon, Wohnzimmer, Küche, wir konnten sozusagen direkt in die Töpfe schauen, die auf dem Herd standen.
    Es sah aus, als wäre ein Festessen
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