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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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weißt du doch. Wegen der Sängerin, die Mama gut findet. Im ganzen Monat Mai haben wir nur ein Lied gehört. Hundertmal die Stiefel. Und als sie wegging, wurde es still.«
    Bossie grinste.
    »Weißt du eigentlich, wovon das Lied handelt?«, sagte er.
    Ich stieß empört die Luft aus. »Von Stiefeln, Bossie, von Stiefeln, mit denen man weglaufen kann.«
    Er schwieg und nickte langsam. Er sagte, dass ich eines schönen Tages Mama fragen sollte, was sie wirklich von diesem Lied hielt. Und vielleicht sollte ich es mir selbst noch einmal gut anhören.
    »Vielleicht«, sagte ich. Aber ich dachte: Tu ich nicht.
    Ungefähr gleichzeitig legten Bossie und ich uns anders hin. Ich lag ein bisschen auf seiner Seite, aber Bossie fand das nicht schlimm. Eine ganze Weile fühlten wir gegenseitig, wie unser Atem auf und nieder ging, wir waren Boote auf einem Meer.
    »Schlafen«, sagte Bossie.
    »Damit wir nicht sterben vor Müdigkeit.«
    »Kennst du die Geschichte von dem Mann, der im Gefängnis saß?«
    Ich machte die Augen zu. Ich konnte es nicht lassen: Ich lag da und grinste in die Dunkelheit. Ich hatte ja auf eine Geschichte gehofft.
    »Was hatte er angestellt?«, sagte ich.
    »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es gut war, dass er etwas angestellt hatte. Denn schau mal: Um zehn vor acht, während er in seiner Zelle saß, brach um ihn herum die Hölle los. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Er wusste sofort: Das ist nicht gut. Die Stadt lag an einem Vulkan, und der hatte lange genug geschlafen. Mit einer Kraft, die ein Standbild von dreitausend Kilogramm sechzehn Meter weit schleudern konnte, wurde die ganze Stadt weggefegt. Achtundzwanzigtausend Menschen kamen um.«
    »Das sind sehr viele«, sagte ich.
    »Es gab aber einen Überlebenden.«
    »Nein.«
    Bossie sagte: »Doch. Der Mann hatte überall Brandwunden, aber er lebte noch. Er hat seinen Namen geändert. Er hat angefangen, bei einem Wanderzirkus zu arbeiten. Kommt her, Leute, und seht ihn an: den einzigen Überlebenden.«
    »Ist das wirklich passiert?«
    »Ja«, sagte Bossie und zog ein Stück Decke zu sich. »Im einen Moment bist du nichts wert, im nächsten bist du etwas ganz Besonderes.«
    Ich lauschte noch eine Weile auf meine Gedanken. Dann lauschte ich auf Bossies Atemzüge, die langsamer wurden.
    Ich fragte mich, ob es aus dieser Geschichte etwas zu lernen gab.
    »Bossie?«

GEESJE
    Am nächsten Morgen war ich früher als Bossie mit dem Einbinden meiner Schulbücher fertig. »Nun geh schon«, sagte Papa. Ich war frei.
    Ich ging zu Geesje. Ihre Mutter sagte: »Das ist komisch. Ich dachte, Geesje sei bei euch.«
    Ich sagte: »Nein, nicht bei uns zu Hause. Vielleicht ist sie in unserem Clubhaus.«
    Geesjes Mutter versuchte zu lachen.
    »Ein Clubhaus ist immer spannend«, sagte sie.
    Auf dem Weg durch die Sandstraße hoffte ich, dass ich um die Ecke der Milchstraße biegen und Geesje wirklich auf der Mauer sitzen sehen würde.
    Sie saß da.
    Ich sagte: »Wir müssen dich mal fotografieren, wie du da sitzt.«
    Ihr einer Fuß ruhte auf dem anderen. Auf ihrem Schoß lag ihr Buch. Sie las.
    Ich setzte mich neben sie und blieb lange still.
    Ab und zu schauten wir uns an.
    Wie gern ich es auch erzählen wollte, ich sagte kein Wort von Mama. Das zu hören wäre für sie nicht angenehm. Ihre Tante würde nie mehr zurückkommen.
    Stattdessen fing ich von Nancy und Jeckyll an.
    Geesje lächelte kurz. Sie sagte: »Ich mache mir keine Sorgen.« Sie schaute zur Turmuhr hinüber und rechnete aus, dass wir noch viereinhalb Stunden hatten, bis Nancy und Jeckyll vorbeikommen würden. Falls sie vorbeikommen würden.
    »Und wenn sie nicht vorbeikommen, ist es eben so.« Geesje nickte und hob ihr Buch ein Stück höher.
    Als der Eismann in die Sandstraße einbog, schlug ich vor, wir sollten uns ein Eis holen. Ich sagte, ich hätte Geld für Stracciatellalalala.
    Sie wollte kein Eis.
    Ich sagte: »Aber ich habe Geld.«
    »Aber ich habe keine Lust«, sagte Geesje.
    Ich fragte, wie es mit ihrem Buch gehe.
    »Gut«, sagte sie. »Fast fertig.«
    Ich sagte: »Ich warte.«

ÜBER DIE AUTOREN
    Bart Moeyaert , 1964 in Brügge geboren, zählt zu den großen europäischen Kinder- und Jugendbuchautoren der Gegenwart. Sein Debüt veröffentlichte er 1983, mit nur 19 Jahren. In seinem Heimatland Belgien vielfach ausgezeichnet, erhielt er für seinen Roman Bloße Hände 1998 auch den Deutschen Jugendliteraturpreis. Weitere internationale und nationale Preise folgten, u. a. 2006 für sein
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