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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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dem Kopf über die Schulter. »Und dort ist nicht Nancy. Ich habe die beiden unterwegs auch nicht gesehen, Os. Spielen wir noch immer dieses Spielchen?«
    Etwas weiter weg, ungefähr in der Höhe der ALTEISEN KG , stand Calista mit dem Rücken zu uns. Ihre Aufmerksamkeit galt der Karre, die sie vorsichtig weiterzog. Sie lief rückwärts und schaute ab und zu unter dem Arm hindurch nach unten. Es gab weder Unebenheiten noch lose Bodenplatten.
    »Komm«, sagte sie.
    Mein ganzer Körper wurde steif.
    Auf der Karre saß ein Hund.
    Er konnte nicht entkommen. Calista hatte ihn festgebunden. Die Zunge hing ihm aus dem Maul.
    Der Hund war viel jünger als Jeckyll. Mindestens dreißig Menschenjahre jünger, würde Geesje sagen.
    Calista sah mich da stehen und verlangsamte ihre Schritte. Sie versuchte, die Karre im Bogen um Bossie herumzuziehen, überlegte es sich aber anders.
    Ich machte: Tsss.
    Ihre Augenbrauen gingen hoch.
    Ich nickte zu der Karre hin.
    Sie sagte: »Hast du wieder was?«
    Ich sagte: »Das Tier.«
    Calista legte die Hand hinters Ohr.
    Ich wiederholte: »Das Tier.«
    Sie schaute zum Himmel und schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Jammert er? Quiekt er? Stört ihn etwas?«
    »Mich hörst du auch nicht quieken«, sagte ich. »Trotzdem stört mich etwas.«
    Bossie grinste. Wir nickten uns zu.
    »Halte deine Zunge im Zaum, Oskar«, sagte er. »Bevor dir etwas herausrutscht, was dir leidtut. Ich glaube, da ist noch Platz für eine Beule über deinem linken Auge.«
    Calista tat, als wäre sie taub. Sie späte in die Ferne. Aus ihrer linken Hand machte sie eine Faust, die sie mit der rechten knetete.
    Bossie kauerte sich neben den Hund und kraulte ihn unter dem Kinn.
    »Dieser Kleine«, sagte er, »könnte zerbrechen.«
    Calistas Blick glitt zu Boden. Sie fiel aus der Rolle. Es war ein Drang, dem sie nicht widerstehen konnte: Sie musste sich vorbeugen und den Hund streicheln. Es sah aus, als würde sie auch Bossie streicheln.
    »Er kann laufen«, sagte sie. »Aber es ist besser, wenn er es nicht tut.«
    So etwas hatte ich noch nie gehört. Aber ich hielt lieber meine Zunge im Zaum, das kam mir vernünftiger vor.
    Bossie sagte, der Hund habe etwas an den Knochen.
    »An den Wirbeln«, verbesserte ihn Calista.
    Bossie nickte. »An den Wirbeln. Mitte September geht er – ritsch – unters Messer.«
    Calista stöhnte und wich zurück, als müsste sie Bossies Messer ausweichen. »Dann wird er von einem Chirurgen operiert«, sagte sie kurz.
    »Au«, antwortete ich.
    Eine Weile wussten wir alle drei nicht, was wir sagen sollten. Wir schauten zu Boden und zum Hund.
    Ein paar von Bossies Geschichten fielen mir ein. Nur ganz selten gingen sie gut aus, wie die Geschichte mit dem Hund, der nach stundenlangem Herumtreiben auf einer Eisscholle gerettet wurde, aber meistens fielen die Flugzeuge und die Kühe vom Himmel, die Katzen krochen in Waschmaschinen, die Hunde verschwanden in Abwasserkanälen oder Kaninchenhöhlen und wurden nie mehr gesehen, und es gab noch schrecklichere Geschichten, bei denen man sich richtig unbehaglich fühlte. Ich sollte lieber den Mund halten oder eine freundliche Bemerkung machen.
    Ich sagte: »Ich glaube, er lächelt.«
    Calistas Blick brauchte lange, bis er mich traf. Sie suchte nach irgendetwas Hinterhältigem in meinen Augen, nach einem falschen Zug um meinen Mund.
    Schließlich sagte sie: »Ja, er ist ein fröhlicher Hund.«
    »Ein sehr fröhlicher Hund«, sagte ich. Ich drehte ein Ohr in seine Richtung. »Ich habe noch nie einen Hund gesehen, der dauernd grinst.«
    Calista und Bossie runzelten die Augenbrauen. Sie senkten, genau wie ich, die Köpfe über den Hund.
    »Jetzt, wo du es sagst«, meinte Bossie.
    Dann wurden wir wieder still.
    Ich dachte: In der Milchstraße steht immer alles still. Wenn man hier um die Ecke biegt, läuft man direkt in ein Foto.
    Mit den Augen lief ich den Bürgersteig entlang, unter unserem Clubhaus vorbei, zur Kirche. Ich kletterte die Wand hinauf und stieß an die Uhr.
    Papas Nachricht fiel mir wieder ein.
    Ich sagte: »Oh.«
    Bossie schaute zu mir hoch.
    »Eigentlich bin ich gekommen, um dich zu holen«, sagte ich. »Auf der Anrichte liegt ein Zettel von Papa.«
    »Was steht drauf? Tut mir leid wegen heute Morgen, Bossie ?«
    »Das ist blöd. Nein. Wir sollen nach Hause gehen und dort bleiben.«
    Calista hob den Arm hoch und kreiste mit dem Zeigefinger um ihren Kopf. »Wir sind gerade dabei, einen langen Spaziergang zu machen.«
    Bossie zuckte mit den
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