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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zur selben Zeit unter uns vorbeigehen, aber jetzt war es, als laufe ein Hund vorbei, der zwar noch die Farben von gestern hatte, aber nicht mehr den Kopf und die Pfoten!
    »He, Jeckyll Dackel!«, riefen wir alle zusammen.
    Der Hund schaute nicht zu uns herauf. Er keuchte und watschelte auf seinen kurzen Pfoten weiter. Seine Krallen kratzten auf den Steinplatten. Er lief, als würde er Schlittschuhlaufen lernen.
    Bossie und Geesje und ich schauten dem Tier nach, um zu sehen, ob es das Ende der Milchstraße erreichen würde.
    Jeckyll lief dicht an den Büschen entlang.
    In Gedanken spornte ich ihn an wie bei einem Wettstreit. Als er um die Ecke bog, bewegte ich meine Schultern mit ihm, als könnte ich ihn damit weiterschieben.
    Es kostete den Hund alle Mühe, sein Hinterteil zu drehen, während sein Vorderteil bereits in der anderen Straße stand.
    Ich klatschte Beifall, als es ihm gelang. Ich musste mich beherrschen, um nicht über die Mauer zu laufen und um die Ecke zu schauen, ob es wirklich wahr war, was ich gesehen hatte.
    Um die Ecke lag ein Platz, der zu einer Kirche gehörte, zu der wir nie gingen. Dort lief Jeckyll immer erst um die Grünanlage herum, bevor er sich auf den Rückweg machte.
    »So ein Hund«, sagte ich.
    »Was für ein Mitgefühl du mit ihm hast«, sagte Geesje.
    »Ich gebe ihm mit meinen Gedanken viel Kraft«, sagte ich.
    Geesje nickte. »Das sehe ich«, sagte sie. »Und es hilft.«
    »Ja«, sagte Bossie. Er ließ die Zunge aus dem Mund hängen und tippte sich an den Kopf und schielte.
    Geesje und ich drehten uns gleichzeitig zu Bossie um.
    Sie sagte: »Wie alt bist du eigentlich?«
    Ich zischte und sagte: »Bossie«, genau wie Mama es gesagt hätte.

NANCY
    Gut eine Minute später schob sich Nancy Sinatra unter uns vorbei. Wie immer lag sie meilenweit hinter ihrem Hund zurück, weil ihre Beine oft nachgaben.
    Bossie und Geesje und ich hatten sie den ganzen Sommer über jeden Tag beobachtet, genau wie ihren Hund, und es war uns noch nicht einmal eingefallen, Witze über sie zu machen. Wir hatten sie noch nie wegen der Stiefel ausgelacht, die sie trug, auch wenn sie lächerlich kurz waren.
    Ich wurde immer ganz still, wenn ich Nancy sah. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man so alt werden konnte und trotzdem noch seinen Hund Gassi führte.
    »Schau doch mal«, sagte Bossie.
    »Wer führt eigentlich wen aus?«, sagte ich.
    Nancy lief über dasselbe Eis wie ihr Hund. Schon ein paarmal war es passiert: Sie traute sich plötzlich nicht mehr weiter. Über eine Minute lang blieb sie bewegungslos stehen. Es sah aus, als wäre sie gegen ein Hindernis gestoßen, das zu hoch für sie war.
    Ihr Kopf kam aus ihrem Kragen wie der Kopf einer Schildkröte unter ihrem Panzer herauskommt, als wäre sie auf der Hut vor den Autos und den Radfahrern, die sie zusammenfahren könnten. In der Milchstraße war fast nie Verkehr, das hätte sie eigentlich wissen müssen.
    Sie hob einen Fuß hoch und setzte ihn ein Stück weiter vorsichtig wieder ab.
    Bossie beugte sich vor und machte den Mund auf, um etwas zu rufen, aber er ließ es dann doch sein. Er schaute Nancy hinterher, wie ich vorhin Jeckyll hinterhergeschaut hatte. Er bewegte den Oberköper und drehte die Schulter, als würde er selbst um die Ecke biegen.
    Sobald Nancy aus unserem Blickfeld verschwunden war, seufzten wir alle drei.
    Sie hatte es wieder geschafft.

DIE WETTE
    Auf dem Platz vor der Kirche blieb Nancy immer stehen und schaute zu, wie Jeckyll seine Runde um die Anlage machte und kurz ins Gras lief, bevor sie zusammen zurückgingen.
    »Hm«, machte Bossie. Er zog die Mundwinkel nach unten.
    »Was?«, sagte ich.
    »Warte noch ein paar Tage, und Nancy kommt keinen Meter mehr vorwärts. Dann wird sie für immer still.«
    »Hör auf«, sagte Geesje. »Man darf sich niemanden tot vorstellen, bevor er tot ist.«
    Bossie machte ein Geräusch mit der Zunge, als würde Geesje ihn bei einem guten Gedanken stören, den er hatte zu Ende denken wollen. Er sagte, er habe das Wort Tod nicht benutzt.
    »Für immer still werden ist dasselbe wie sterben.« Sie legte ihr Buch neben sich, baumelte mit den Beinen Richtung Straße und lehnte sich zurück, die Hände auf dem Lagerdach.
    Sie sagte: »Jeckyll der Dackel ist achtzig.«
    »Nancy auch«, sagte Bossie. »Ungefähr.«
    »Achtzig Menschenjahre, für einen Hund«, sagte Geesje. »Für einen Hund ist achtzig steinalt.«
    »Und für einen Menschen nicht? Ich kenne keinen, der achtzig ist.«
    Geesje schwieg und
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