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Untitled

Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Joachim Bessing
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Paris
    Ich stehe an der Bande des mit hellem Sägemehl bestreuten Parcours unter den berühmten Glaskuppeln des Grand Palais in Paris, alles hier ist entweder dunkelbraun oder orangefarben dekoriert, auf den Tafeln der Bande wiederholt sich der Schriftzug Hermès Hermès Hermès, es ist Nacht und computergesteuerte Effektlichter in Orange und in hellem Blau wirbeln über die Rücken zweier Herden von Pferden – die einen mit hellem, die anderen mit dunklem Fell –, dazu läuft eine an die Nieren gehende Streichermusik: Es ist eine Art Tanztheater für Pferde, der Plot dreht sich um ein verirrtes, nein: entführtes Pferdeweibchen, eine Prinzessin, die von den Apfelschimmeln, sechzehn an der Zahl, gerettet werden soll. Ich trage mein Lieblingsjackett, aus navyfarbenem Plastikpiquet, ich bin angetrunken wie eigentlich an jedem Abend seit Monaten, immer gibt es diesen Jemand, der mein Glas wieder auffüllt, heute ist es Champagner, in zwanzig Minuten wird bereits zum Charity-Dinner gebeten, meine Tischdame wird die Frau des japanischen Botschafters sein, und jetzt erst erkenne ich Carine Roitfeld, die von der gegenüberliegenden Tribüne zu mir hinüberschaut, und ich sehe ihr Kannibalengrinsen leuchten und es ist mir peinlich, denn ich weine und weine und die Tränen laufen mir über die Wangen und bestimmt glänze ich, also hebe ich ebenfalls mein Glas und proste ihr über den Wirbel aus Pferderücken zu. Ich drückemich durch die vielen vielen anderen Menschen hindurch und beeile mich zu den Toiletten ins Untergeschoss, verriegele die Kabinentür, streife mein Jackett ab, wahrscheinlich rutscht es zu Boden. Ich stütze mein heißes, klebriges Gesicht in meine Hände und heule endlich endlich richtig los.
    Als kaum mehr Tränen nachkommen und das Schluchzen mich durchschüttelt, lege ich meine Schläfe an die kühlen Kacheln und merke dabei, dass mir der kleine Schmerz gerade richtig guttut, und ich presse ein bisschen fester gegen die Wand und mit der freien Hand stecke ich mir die Ohrhörer ein. Der iPod shuffelt The Greatest von Cat Power, was die Sache nicht unbedingt besser macht, aber Hauptsache: Ich muss die Pferdemusik nicht mehr hören, und ich ziehe aus dem kleinen Ziplock-Tütchen eine vernünftige Menge Ketamin hoch; gerade genug, um mich wieder einzukriegen und abzudämpfen für das Dinner, zu dem ich jetzt wieder hinaufsteigen muss. Vor dem Spiegel träufle ich mir etwas Visine in die Augen, um die Rötungen wegzukriegen. Mir wird kalt und ich nehme noch etwas von dem Ketamin.
    Als ich mich später im Hotelzimmer ausziehe, fallen aus meiner linken Jackentasche einige schwere Silbergabeln von Cristofle, die ich während der Unterhaltung mit meiner Tischdame eingesackt haben muss. Man hat mir die ersten Flakons des Parfums von Martin Margiela zugeschickt. Es heißt Untitled und soll nach Buchsbaum und Schierling duften. Auf dem Tisch steht ein Trog aus Bleikristall mit lila Rosen, darin steckt eine Karte von Tom Ford, mit der er sich für die Story über seine erste Schmuckuhrenkollektion bedankt, die Figaro Madame am letzten Wochenende abgedruckt hat.
    Ich fülle mir einen Baccarat-Tumbler bis unter den Rand mit Chambord ohne Eis und nehme kleine Schlucke, die angenehmerweise nach nichts schmecken, denn das Ketamin hat mich mittlerweile vollkommen taub für alles werden lassen, bis auf eins – als ich den Computer aufklappe, erscheint dort nach dem zweifachen Einrasten der Festplatte ein Nachbild des Videoskypes von heute Nachmittag. Und ein Standbild des Gesichts von J füllt das Display aus, sie ist so wunderschön, und darüber erscheint in grober Systemschrift: Verbindung abgebrochen.
    Ich fange schon wieder an zu heulen. Es hört nicht mehr auf.
    Und immer noch vor mich hinweinend entledige ich mich später meiner Kleidung kreuz und quer über den Teppichboden, schlüpfe unter die breite, seufzend auf mich herabsinkende Daunendecke und sehe mich im anderen Teil der Suite noch immer vollkommen bekleidet an dem spiegelnd polierten Holztisch sitzen, wo ich ein dunkles Blütenblatt nach dem andern aus dem Rosenstrauß zupfe.
    Ketamin: die Droge, von der Katholiken träumen.
    Das Duschen unter dem Rainforestschwall bringt fast nichts, ich fühle mich wie kurz vor dem Zubettgehen, dabei ist es morgens, kurz vor halb neun. Aus meinem Fenster kann ich den Dachgarten des Stammhauses von Hermès in der Rue Saint-Honoré sehen, ein Hengst aus weißem Stein setzt zum Sprung an über die Brüstung, der Reiter
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