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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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schaute zur Seite.
    »Du redest ein bisschen dumm daher, Bossie«, sagte sie. »Ein Hund mit achtzig stirbt eher als ein Mensch mit achtzig.«
    »Der älteste Hund der Welt ist hundertvierzig, in Menschenjahren.«
    »Was hat das damit zu tun?«, sagte Geesje. Sie blies sich den Schweiß vom Gesicht. »Ein Hund stirbt leichter als ein Mensch. Schau dir Jeckyll an. Sein Bauch streift beinah über den Boden, so gern will er sich hinlegen. Gleich geben seine Beine vor lauter Müdigkeit nach.«
    »Müdigkeit?«, sagte Bossie. »Müdigkeit heißt gar nichts. Wenn Müdigkeit etwas heißen würde, würden wir am Ende der Woche auch sterben.«
    Ich musste lachen.
    »Ja«, sagte ich. »Wenn Müdigkeit ein Zeichen dafür wäre, dass man bald stirbt, müsste man mich jetzt begraben.«
    »Halt den Mund«, sagte Geesje. Sie meinte, das passiert einem schneller, als man denkt.
    Bossies Gesicht strahlte vor Vergnügen.
    »He«, sagte er und hielt Geesje die Hand hin. »Wollen wir wetten?«
    »Wetten?«
    »Wer zuerst stirbt.«
    Geesje schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, nein.«
    »Was heißt nein, nein, nein?«
    »In dem Buch, das ich gerade lese, verspricht jemand, dass er etwas nie mehr tun wird, und dieses Versprechen kann er nicht halten.«
    »Versprechen ist etwas anderes als wetten«, sagte Bossie. »Ich stelle einfach eine Frage: Wer stirbt als Erster? Nancy oder der Hund?«
    Ich lachte vorsichtig und sagte: »Und was gibt es zu gewinnen?«
    »Das ist eine gute Frage.« Bossie dachte nach. »Wer gewinnt, darf einen Tag lang alles bestimmen.«
    »Oh«, sagte Geesje. »Dann ist das hier der Hof des Königs, und ich bin die Königin. Abgemacht. Der Gewinner darf einen Tag lang alles bestimmen.«
    »Einverstanden«, sagt Bossie. »Der Gewinner darf einen Tag lang alles bestimmen.«
    »Ich bin Zeuge«, sagte ich.
    Wir hielten alle drei die Luft an, weil wir unter uns, auf dem Bürgersteig, jemanden keuchen hörten.
    Es waren Nancy und Jeckyll, zusammen.
    Sie begannen ihren Rückweg. Noch schleppten sie sich nebeneinander her, aber allmählich bekam Jeckyll wieder einen Vorsprung.
    Geesje schaute hinunter. Sie sagte: »Jeckyll stirbt als Erster.«
    »Nancy«, sagte Bossie. »Hundertprozentig: Nancy.«
    Sie hoben beide eine Hand hoch und ließen die Hände gegeneinanderklatschen. Der Schlag machte Lärm und tat wahrscheinlich weh, aber sie zuckten nicht mit der Wimper.
    Nancy erschrak. Sie schaute vorsichtig zu uns herauf und legte die Hand auf die Brust, als sie unsere Köpfe sah.
    »Guten Tag, Jungs«, sagte sie zittrig.
    Wir sahen uns an.
    »Guten Tag, Jungs?«, sagten wir.
    Geesje runzelte die Stirn. Sie beugte sich vor und nickte Nancy zu. »Guten Tag, Herr Sinatra«, sagte sie.
    Darüber mussten wir alle drei schrecklich lachen.

EIN MYSTERIUM
    Als die Turmuhr am nächsten Tag sechsmal schlug, warteten wir wieder auf Nancy und Jeckyll. Auf Zehenspitzen schlichen wir zum äußersten Dachrand des Lagers. Geesje schlug vor, sie zu rufen.
    »Jeckyll! Nancy!«
    Was nützte es schon – es waren nicht ihre richtigen Namen.
    Jeckyll und Nancy kamen nicht.
    Wir sagten uns, das sei nur Zufall. Morgen würden sie wieder vorbeikommen.
    Wir zählten die Möglichkeiten auf. Nancy und ihr Dackel waren in Urlaub gefahren. Nancy war krank, deshalb konnte sie Jeckyll nicht ausführen. Jeckyll war krank, deshalb konnte er nicht ausgeführt werden. Sie hatten ihre Gewohnheiten verändert. Sie nahmen ab jetzt einen anderen Weg. Sie wussten nicht mehr, wie sie zur Milchstraße kommen konnten. Sie waren umgezogen. Jeckyll hatte eine neue Grünanlage gefunden, um die er herumlaufen wollte.
    Bossie stieß Geesje an und sagte, es gebe also zwei Gewinner.
    »Warum zwei?«, sagte Geesje.
    »Weil sie beide tot sind«, sagte Bossie. »Sie sind gleichzeitig gestorben.« Er hob die Faust hoch, um zu jubeln, aber ich stopfte ihm den Mund.
    »Halt dich zurück«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Geesje. »Man darf den Tod nicht direkt auslachen.«
    Wir kletterten die Mauer hinunter und folgten der Straße bis zur Ecke, um die wir Nancy und Jeckyll immer hatten verschwinden sehen. Dort kam Geesje plötzlich auf die Idee, einen Mann zu fragen, der zufällig die Sandstraße entlangkam, ob er eine alte Frau und ihren Hund kenne.
    »Eine alte Frau und ihren Hund?«, sagte der Mann.
    »Ja«, sagte Geesje. »Einen alten Hund und eine alte Frau mit roten Stiefeln. Wissen Sie, wo sie herkommen?«
    »Wo die Stiefel herkommen?«, sagte der Mann grinsend.
    »Nein«, sagte
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