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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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geblieben, der über den Abgrund wuchs. Anderthalb Tage hat sie in der Luft gebaumelt, bevor sie gefunden wurde. Ihre Zunge war knochentrocken. Sie konnte sich nicht bewegen, der Baum hielt ihre Jacke fest, und die Jacke ließ die Frau nicht los. Als sie sie nach oben gehievt hatten, dauerte es eine Stunde, bis sie wieder auf den Beinen stehen konnte. Und sie wollte nicht mehr sterben. Sie hat ein ganz neues Leben angefangen.«
    Phyllis wartete, bis ich sie wieder anschaute, nicht mehr das Kästchen in ihrer Hand. Sie grinste. »Jetzt begreifst du wohl auch, warum ich das für ein fröhliches Kästchen halte.«
    Ich versuchte zu lachen, aber es gelang mir nicht richtig. Ich verstand nicht, warum sie es für ein fröhliches Kästchen hielt.
    Die Pitts S 2 B schoss mir durch den Kopf. Phyllis würde diese Geschichte gefallen. Sie würde mit Bossie vermutlich gut klarkommen.
    Das Herz sank mir in der Brust. Ich dachte an Mama.
    »Ja, mit Konfetti«, sagte ich, ohne zu wissen, warum ich es sagte.
    Mir brach kalter Schweiß aus.
    Durch meinen Kopf schwirrte ein neuer Gedanke. Ich wurde ihn nicht los. Der Gedanke war: Mama fängt ein neues Leben an. So kurz war er. Mama fängt ein neues Leben an. Aber weil sich dieser Gedanke dauernd wiederholte, wurde er zu einem unerträglich langen Gedanken.
    Ich dachte: Ich stelle mich hin, dann bekomme ich Luft. Ich legte das Handtuch mit dem Eis auf den Tisch. Ich dachte, meine Hände seien nass vom Eis, aber es war Schweiß. Das Hemd klebte mir am Rücken.
    »Gehst du schon?«
    »Vielleicht wollen sie draußen, dass ich helfe«, sagte ich.
    Als ich mich zur offenen Tür umdrehte, wurde mir ein paar Sekunden lang schwarz vor den Augen. Ich musste mich am Stuhl festhalten.
    Das Licht war viel zu grell.
    Die Geräusche, die von draußen hereinkamen, waren viel zu schrill. Die Spatzen, die gerade noch gezwitschert hatten, schrien jetzt. Es waren vielleicht nur drei, aber sie machten Lärm für zehn.
    Die Stimme von Phyllis’ Mutter kam näher.
    Sie rief, dass Priit das Blei nicht vergessen solle. Und hatte sie schon erzählt, dass das Lebensmittelgeschäft in der Bohemiastraße abgerissen wurde und dass dort im Keller ein riesiger Kessel stand?
    Sie lachte gackernd. »Da gibt es was zu verdienen, Priit!«
    Ein Schatten fiel über mich und den Tisch, als Phyllis’ Mutter in der Tür erschien.
    »Wie geht es hier?«, sagte sie.
    Ich hatte gerade noch Zeit, um zu lächeln und zu sagen: »Mir wird …«, doch dann war es, als ob ich mich in meinem eigenen Körper umdrehte. Das Blut verschwand aus meinem Kopf. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Mein Rumpf flog nach vorn. Der Inhalt meines Magens schoss nach draußen, als würde ich vor den Füßen von Phyllis’ Mutter einen Topf Suppe auskotzen.
    »Bah«, machte ich.
    Ich blieb vornübergebeugt stehen, breitbeinig, die Arme ausgestreckt. Ich wagte nicht, die Pfütze anzuschauen.
    »Halt den Hund zurück!«, rief Phyllis’ Mutter.
    Hinter meinem Rücken und neben mir wurden Schränke geöffnet, Eimer gefüllt, Putzlappen ausgebreitet.
    Phyllis hielt den Hund am Nackenfell fest. Sie sagte: »Setz dich doch.«
    Ich fragte mich, ob sie mich meinte.
    »Setz dich doch, Oskar, setz dich«, musste Phyllis’ Mutter sagen, bevor ich mich setzte.
    Sie fügte noch etwas über die Hitze draußen hinzu – dass es hier drinnen eigentlich wärmer als dort wäre. Sie sagte etwas über meine Schuhe und mein Hemd, ob ich die Sachen nicht lieber ausziehen möchte. Und ob ich vielleicht wisse, warum Affenhitze eigentlich Affenhitze hieß und ob es einem Hund nicht genauso heiß wäre.
    Ich dachte: Sie quasselt drauflos, damit ich vergesse, dass ich mich schäme.
    Ich machte die Augen zu. Vielleicht blieb dann nur mein Körper in der Küche zurück. Aber nein, es funktionierte nicht, ich schämte mich noch immer zu Tode.

KÄSTCHEN
    Auf der Rückfahrt neckten mich Priit und Petra. Sie sagten Tschüsschen statt Küsschen und Rädchen statt Mädchen, es ergab alles keinen Sinn. Um ihnen klarzumachen, dass ich ihre Witze blöd fand, kitzelte ich mich selbst unter dem Arm und tat, als würde ich lachen. Das fanden sie besonders witzig.
    Sie sagten nichts über den Vorfall in der Küche. Sie mussten es einfach riechen, weil ich zwischen ihnen saß. Phyllis’ Mutter hatte mein Hemd und meine Schuhe nicht ganz sauber bekommen. Der Geschmack in meinem Mund war genau wie der Geruch um mich herum. Zum Glück waren die Fenster ein Stück geöffnet, und es gab
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