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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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für Mama.«

MIT DEM BOOT
    Mitten in der Nacht schlug ich die Augen auf und betrachtete lange einen Drachen. Er beugte sich über mich, wodurch mein böser Traum, aus dem ich gerissen worden war, andauerte. Erst nach einer Weile kapierte ich, dass es Bossies Schatten an der Decke war. Er saß auf dem Boden neben seiner Nachttischlampe.
    Ich sagte: »Wie spät ist es?«
    Er erschrak, als hätte er tief geschlafen. »Mitten in der Nacht«, sagte er. »Du musst schlafen.«
    »Du auch«, sagte ich.
    Ich legte den Arm über die Augen, hielt aber einen Spalt frei. Eine Weile lag ich da und beobachtete heimlich meinen Bruder.
    Er saß mit gekreuzten Beinen zwischen Mamas Briefen. Alles, was sie uns je geschickt hatte, hatte er ausgebreitet.
    Brief Nummer vier lag vor ihm. Die Karte hielt er in der Hand.
    Ich rückte zum Rand meiner Matratze und schob vorsichtig einen Fuß unter der Decke heraus.
    »Bleib liegen«, sagte Bossie.
    »Ja«, sagte ich und überquerte hinter seinem Rücken den Teppich und kroch in sein Bett. Dort blieb ich liegen. Ich knurrte leise.
    »Ferkel«, sagte Bossie.
    »Bossie«, sagte ich.
    Er schob sich mit dem Rücken gegen das Bett, sodass wir zusammen die weißen Häuser unter dem blauen Himmel auf der Karte betrachten konnten. Die Dächer waren Kegel aus flachen Steinen. Wenn man durch die Wimpern lugte, war es ein Dorf aus einem Film mit sprechenden Tieren.
    Als Bossie die Karte umdrehte, wurde mein Herz wieder zu groß für meine Brust. Ich musste mir erst die Augen reiben und blinzeln. Sie schossen hin und her über die Wörter. Ich wollte alles zugleich lesen und vor allem die letzte Frage.
    Diese Frage las ich ein paar Mal.
    Jedes Mal gab ich die richtige Antwort.
    »Ja.«
    Bossie musste lachen.
    »Das wollte ich gerade auch sagen«, sagte er.
    Er legte die Karte auf den Boden und kroch über mich hinweg ins Bett.
    »Wir kommen von der Schule nach Hause, und sie wird dasitzen.«
    »Am Küchentisch.«
    »Braun gebrannt.«
    »Fröhlich.«
    Das Herz klopfte mir in der Kehle. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich jetzt schon weinen. Ich sah, wie Mama sich nach uns umdrehte. Ihr Lachen war wie ein Wasserfall – ich tauchte darunter hindurch. Sie trug fröhliche Kleider. Ihr hellblauer Koffer stand neben der Tür, sie hatte ihn einfach abgesetzt, und wer hereinkam, stolperte darüber.
    Ich stolperte darüber, aber Mama fing mich auf.
    Sie zog Bossie und mich gleichzeitig an sich. Sie küsste uns abwechselnd, oben auf unsere Köpfe. Inzwischen hielt sie mich so fest, als wäre ich an sie geklebt. Ich küsste nur den Fleck unter ihren Rippen, die Stelle wurde zu Mama, und ich hoffte, dass ihr durch den Kuss an dieser einen Stelle klar wurde, dass sie nie mehr weggehen durfte.
    »Hast du mich vermisst, Mama?«, sagte ich zu Bossie.
    Er schaute mich an und grinste. »Natürlich nicht«, sagte er. Er sah, wie sich mein Gesicht verzog, und korrigierte sich schnell. »Natürlich nicht jede Sekunde, aber fast. Hast du mich vermisst, Mama?«
    Ich revanchierte mich dadurch, dass ich lange nachdachte und zweifelte. Schließlich sagte ich: »Ich habe dich beinah genauso viel vermisst wie Oskar.«
    Bossie wurde ernst. Er schaute mich an und sagte: »Das ist sehr viel.«
    Ich musste den Blick von meinem Bruder abwenden und die Augen schließen.
    Ich sagte: »Puh, bin ich müde.«
    »Puh, ich auch«, sagte Bossie. Er drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zu mir. Das tat er sonst nie.
    Ich betrachtete ihn. Er wollte etwas sagen, das sah ich ihm an. In Gedanken sagte er es schon. Seine Lippen bereiteten sich darauf vor.
    »Weißt du eigentlich, warum Mama weggegangen ist?«
    Ich nickte. Ich fand es schwierig, Bossie weiter anzuschauen, ich drehte das Gesicht zur Decke.
    Bossie zog seine Hand unter der Decke hervor und deutete mit einem tanzenden Finger auf meine Stirn. »Wegen des Wirrwarrs?«, flüsterte er.
    »Auch«, sagte ich.
    »Weil Papa nie Zeit hatte?«
    »Ja«, sagte ich. Ich streckte den Arm zur Nachttischlampe und knipste das Licht aus.
    »Schlau«, sagte Bossie.
    Die Dunkelheit fiel nicht herunter, sie schmiegte sich an uns.
    »Noch mehr Gründe?«
    »Ich glaube nicht«, flüsterte ich.
    Das frühe Licht kroch vorsichtig durch unseren Vorhang. Draußen sangen die ersten Amseln.
    Ich späte aus dem Augenwinkel, ob Bossie seine Augen schon geschlossen hatte. Sie glänzten. Er schaute mich noch immer an.
    »Warum haben wir Nancy eigentlich Nancy genannt?«, fragte er plötzlich.
    Ich sagte: »Das
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