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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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halbdunklen Gesicht meines Bruders. Ich schaute ihn die ganze Zeit an und hoffte, er würde irgendetwas Ermutigendes sagen. Er sollte sagen, dass der Hund, den wir heute Abend gesehen hatten, nicht Jeckyll war. Er sollte sagen, er wisse genau, dass Jeckyll noch lebe. Er sollte mich beruhigen, dass es auch Nancy noch gab. Anhand einer wirklich passierten Geschichte sollte er mir beweisen, dass niemand starb, weil jemand eine Wette eingegangen war. Man konnte Nadeln in Puppen stecken, ohne dass zwangsläufig hundert Kilometer weiter jemand starb.
    Bossie schwieg. Er machte keine Anstalten, nach Hause zu gehen.
    »Was sollen wir zu Hause tun«, sagte er, als ich ihn auf die Uhrzeit hinwies.
    »Wir können morgen wiederkommen«, sagte ich. »Dann sehen wir … sie vielleicht.«
    »Ja«, sagte Bossie. »Dann sehen wir sie vielleicht.«
    Im Halbdunkel hellten sich seine Augen auf.
    Ich betrachtete ihn. Ich verstand, warum wir über eine Stunde lang unter dem Strauch gelegen hatten, sodass uns das Unkraut fast in den Bauch gewachsen wäre.
    Es ging Bossie nicht mehr um Jeckyll. Es ging ihm nicht um Nancy oder ihre Stiefel. Es war ihm egal, ob sie tot oder mausetot war. Und es war ihm auch egal, wer die Wette gewinnen würde.
    Ich lachte Bossie zu, aber er sah es nicht.
    »Gut«, sagte ich. »Wir kommen morgen zurück.«
    Es war fünf vor neun, als wir unter dem Rhododendron herauskrochen. Das war sehr spät – fast zu spät nach Papas Regeln.
    Er war kein Vater, der seine Kinder zur Strafe einfach ins Bett schickte und davon ausging, dass morgen auch noch ein Tag war. Er war nicht so einer, der einen Tag danach noch einmal darüber sprach und danach alles wieder gut war. Wenn wir zu spät nach Hause kamen, riskierte Bossie weniger Taschengeld, und ich riskierte den Vorratsschrank, mit einem Glas Wasser und einer Schokoladenwaffel gegen Durst und Hunger. Diese Strafen hatte Papa sich nicht selbst ausgedacht. Er hatte sie von Mama übernommen, samt dem Glas Wasser und der Schokoladenwaffel.
    Bossie richtete sich mühsam auf.
    »Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte er.

DIE NACHT
    Mitten in der Nacht wurde ich von jemandem geweckt, der mir im Traum ins Ohr geschrien hatte. In echt war es vielleicht eine Mücke, die gebrüllt hatte, aber wie auch immer: Mir gefiel es überhaupt nicht, von einem Schrei geweckt zu werden.
    Eine Weile lang starrte ich mit weit offenen Augen zur Decke. Ich spitzte die Ohren, fing Fetzen der Musik auf, die in Papas Arbeitszimmer spielte. Sie war so leise gestellt, dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich würde sie mir nur einbilden.
    Papa arbeitete, wenn wir schliefen. Was er sich tagsüber ausdachte, schrieb er nachts auf. Seine Stücke würden ihre Form suchen, sagte er. Ordnen sei eine schwere Arbeit. Ich wusste nie, was er damit genau meinte, aber es hörte sich an wie etwas, was am Schluss immer gelang.
    Ich war davon überzeugt, mich vollkommen leise im Bett umzudrehen und auch still liegen zu bleiben, aber das stimmte nicht. Bossie, am anderen Ende des Zimmers, hatte offenbar mein Herz klopfen gehört. Er hatte all meine Bewegungen gespürt, die Luft, die ich verschoben hatte. Er ließ mich eine Weile seufzen und schnaufen und lautlos maulen, weil ich nicht einschlafen konnte, dann sagte er plötzlich: »Os?«
    »Ja?«, sagte ich erschrocken.
    »Geht’s?«
    »Ja«, sagte ich. »Jetzt geht’s wieder.«
    Das war nicht gelogen. Es ging besser, ich fühlte mich schon dadurch erleichtert, dass Bossie wach war.
    »Du musst schlafen«, sagte Bossie.
    »Ja«, sagte ich. »Du auch.«
    Es dauerte noch lange, bis wir beide das taten, was wir zueinander gesagt hatten.

MÜDE
    Morgens saß Papa mit grauem Gesicht am Frühstückstisch und wartete, bis wir unser Butterbrot gegessen hatten und nach draußen verschwanden. Es würde keine Minute dauern, dann würde er den Tisch unabgeräumt zurücklassen und die Treppe hinaufschlurfen, um oben seinen Schlaf nachzuholen.
    Bossie und ich gingen zurück zu dem Rhododendron neben dem Haus. Um Bossie einen Gefallen zu tun, hielt ich es ein paar Stunden lang durch, aber gegen zwölf hatte ich genug. Meiner Meinung nach war das Einzige, was sich im Haus bewegte, eine Spinne in ihrem Netz und ein bisschen Wind.
    Ich wollte hier keine Zeit mehr verlieren.
    Ich sagte zu Bossie, er könne allein unter dem Rhododendron liegen bleiben. Ich vermisste Geesje. Ich wollte zu Hause eine Packung Waffeln für unser Mittagessen holen und dann zur Milchstraße gehen, zur Mauer
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