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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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MINGUS
    Papa ist tot.
    Sein Schlüsselbund mit dem Löwenkopf wiegt schwer in meiner Tasche. Ich bin noch nie lange draußen gewesen. Ich bin noch nie alleine draußen gewesen, und ich setze mich sofort auf einen Stein neben dem Tor und sehe zu, wie die Sonne untergeht. Ich weiß, dass dies die Sonne ist, die hinter den Bergen wegtaucht wie eine glühende Scheibe. Papa hat sie mir gezeigt durchs Fenster. Das ist lange her, viele, viele Zeiten, Zeiten von Hitze und Kälte. Jahreszeiten, sagt Papa. Jetzt ist Sommer. Meine Lieblingszeit. Draußen riecht es gut, und doch, ich möchte zurück in mein Bett kriechen. Aber vor meinem Bett liegt Papa. Er lebt nicht mehr, und all sein roter Saft ist ausgelaufen. Ich habe ihn abgeworfen, nur das, nichts weiter, ich habe ihn abgeschüttelt, weggeschleudert, weiter nichts. Ich wollte ihm nicht wehtun. »Du musst lernen, dich zu bezähmen«, sagt Papa. »Du hast solche Kraft«, sagt Papa. »Das ist gut, aber gefährlich.«
    Er hat mich angesprungen, von hinten, und nach meinem Mund gesucht mit seiner Hand, in der er die Tablette hielt. Ich wollte sie nicht nehmen. Ich hasse es, so lange zu schlafen. Immer macht er, dass ich schlafe.
    Man kann weit sehen von hier aus. Das rote Tal, sandiger Boden mit Steinen, die Schatten werfen. Weit weg, so weitweg die Berge. Es sind keine Berge, sondern Hügel, sagt Papa. Ich habe noch nie einen Berg gesehen. Die Sonne ist weg, und alles färbt sich dunkelblau, dann grau, dann schwarz. Die Steine sehen aus wie kleine Menschen, die sich zum Schlafen zusammengekauert haben. Nichts bewegt sich. Nur Wind geht und kommt, unsichtbar, hebt Stöckchen auf und trockene Halme und trägt sie ein Stück, ehe er sie fallen lässt. Ich höre das große Windrad über mir klappern. Ich möchte essen. Drinnen mache ich die Kiste auf, in der es Winter ist, immer Winter, sagt Papa. Ich nehme Fleisch heraus. Ein großes Stück mit einem Knochen. Der glänzt wie Metall im trüben Licht.
    »Ich esse das alles auf«, sage ich. Natürlich antwortet er nicht. Und ich lache. Die toten Tiere kann man essen, aber nicht die Menschen, sagt mein Papa. Menschen muss man ganz lassen, wenn sie tot sind, und dann eingraben, ehe sie schlecht riechen.
    In der Winterkiste ist kein Platz für Papa. Ich werde ein Loch graben. Morgen. Und einen Stein draufrollen. Ich bin stark. Viel stärker als Papa. Ich kann ihn aufheben und tragen. Er will das nicht.
    Papas Bett ist zu klein für mich, aber es riecht gut, nach ihm. Er hat ein Kissen. Ich werfe es auf den Boden. Morgen grabe ich Papa ein. Morgen gehe ich weg. Morgen geht die Sonne auf, und es wird heiß. Ich werde Papas Tasche mitnehmen. Sie packen, so wie er es immer getan hat. »Geh nicht weg, Papa! Geh nicht weg!« – »Ich bin bald zurück. Dein Essen ist da. Komm her, lass mich die Kette festmachen. Nimm schön deine Tabletten, schau, ich nehme auch Tabletten. Papa Tabletten. Das sind deine, da in der rotenSchachtel. Da steht ›Mingus‹ drauf. Dein Name.« Ich will die Tabletten nicht. Ich will nicht schlafen. Jetzt aber werde ich schlafen.
    Papa ist tot. Ich höre das Windrad klappern hoch überm Haus. Da stehen seine Schuhe vor dem Bett. Ich schaue hinüber und versuche, seine nackten Füße zu sehen, dort, wo er liegt. Er ist nur ein dunkler Haufen.
    Als es hell wird, schließe ich die Tür auf und stehe auf der Schwelle. Ich stehe da. Ich habe Lust gehabt, gleich loszulaufen, und es macht mich böse, dass er mich zurückhält, ganz so, als könnte er noch sprechen. Ich weiß, wo er die Spaten hat, drüben im verbotenen Haus aus Metall, in das ich noch nie hineindurfte. »Das ist gefährlich«, sagt Papa. »Das ist kein Ort für dich. Du würdest sofort sterben, sobald du auch nur die Tür berührtest. Verstehst du mich?« Ich weiß, was sterben ist. Ich habe gesehen, wie die Kleinen starben, hässliche magere Dinger, die schlecht rochen und mit offenen Mäulern schrien, nicht essen wollten, um sich schlugen und uns nachts nicht schlafen ließen. Sie wollten nicht sterben. Dann lagen sie still, und Papa brachte sie weg. Eingewickelt in ihre Schlafdecken. Er selbst hockt da und heult, als wäre er selber gestorben. »Was ist mit dir los?«, frage ich ihn. »Das sind deine Brüder!«, brüllt er, und als ich lache, schlägt er mich. »Du warst auch so klein«, flüstert er. »Du warst auch so klein.« Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich war immer stark, und ich habe immer gerne gegessen. Mehr weiß ich nicht.
    Am Morgen
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