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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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haben aufgehört zu zählen, wie oft der Mond auf- und untergegangen ist. Wir gehen weiter. Wir waten durch reißendes Wasser. Wir kämpfen uns durch dornige Büsche. Wir sind zerkratzt, und der Kleine ist verbrannt von der Sonne. Ich pflücke Hautfetzen von seinem Gesicht. Die Haare auf meinen Armen sind hell geworden, und meine Kleider sind zerrissen.
    Wir erreichen die Hügel an einem Tag mit heftigem Wind. Ich weiß schon lange nicht mehr, wie viele Tage wir gelaufen sind. Meine Augen tun mir weh, und der kleine Bruder fällt oft hin, bleibt liegen und muss aufgerichtet werden und geschüttelt. Wir haben kein Wasser mehr, und was wir zu essen finden, schmeckt nicht gut. Kleine Tiere, die hart zu kauen sind und schwer zu schlucken. Die Hügel sehen von Nahem sehr hoch aus.
    Ich rieche es schon von Weitem.
    Es gibt Menschen. Wir verstecken uns. Vielleicht werden sie uns töten. Ich beobachte sie, wie sie herumlaufen, in der Erde wühlen und zusammensitzen, um zu essen. Ja, sie essen. Es riecht gut. Sie haben Wasser.
    Zuerst entdecken sie den kleinen Bruder, weil er anfängt, laut zu schreien und zu heulen. Ich schaue zu, wie sie ihn wegtragen. Seine Arme und Beine baumeln, als wäre er tot. Dann suchen sie nach mir. Ich verstecke mich. In einer kleinen Schlucht kann ich ihnen nicht mehr entkommen.Ich lasse mich anfassen und betasten. Ich verstehe nicht alles, was sie sagen. Sie sehen nicht aus wie Papa. Sie binden meine Hände aneinander und schleppen mich in eines der kleinen Häuser. Sie riechen fürchterlich. Sie haben Angst vor mir. Trotzdem. Sie geben mir Wasser, sie halten mich fest und gießen Wasser in meine Augen. Sie geben mir Essen und hocken um mich herum, so weit entfernt von mir, wie sie können, während ich esse. Sie wollen sehen, wie ich esse. Es ist herrliches Essen. Ich sage ihnen das, aber ich weiß nicht, ob sie das verstehen. Ich lache und reibe meinen Bauch, das verstehen sie, und auch sie lachen. Ich spüre, dass sie mir nichts tun werden. Sie sprechen mit mir, alle sprechen, es ist so laut und macht mich böse, aber ich will nicht zuhören. Ich halte mir die Ohren zu. Sie lachen darüber. Ich denke, ich kann weglaufen, wenn ich mich ausgeruht und mich vollgefressen habe. Den kleinen Bruder will ich mitnehmen. Ich muss herausfinden, wo sie ihn eingesperrt haben. Ich muss schlafen. Es gibt einen Haufen trockener Gräser, auf dem rolle ich mich zusammen. Meine Hände und Füße sind mit Stricken zusammengebunden. Ich lasse sie glauben, ich könnte mich nicht befreien.
    Den ganzen Tag graben sie in der Erde. Es gibt dort Steinmauern, die einmal zu Häusern gehört haben, ehe sie unter die Erde versunken sind oder ehe man sie eingerissen hat oder abgebrannt. Sie graben und finden seltsames Zeug, kleine Sachen aus Metall oder Stücke von Tellern oder Tassen. Nichts Schönes. Sie zeigen mir, was ich machen soll. Ich soll Erde mit der Schaufel durch ein Gitter werfen. Ichkann das. Ich spüre, an welchen Stellen etwas unter der Erde liegt. Ich zeige es ihnen. Das gefällt ihnen. Sie haben mir Hosen gegeben, die groß sind, aber ich binde sie mit meinem Gürtel fest. Sie geben mir immer zu essen und zu trinken. Sie lassen mich nie aus den Augen.
    Der kleine Bruder sitzt den ganzen Tag unter einem Baum und lässt den Kopf hängen, so als wäre er eingeschlafen. Ist er aber nicht. Wenn ich vorbeikomme, rede ich mit ihm. Ich sage: »Bald hauen wir hier ab, hab keine Angst.« Dann hebt er den Kopf und schaut mich an. Er versteht alles. Er ist traurig. Das spüre ich. Vielleicht weil Papa tot ist. Wasser läuft aus seinen Augen. Ich weiß nicht, wie er das macht.
    Wie bei uns gibt es auch hier große Metallhäuser, in die ich nicht darf, und es gibt auch hier so etwas wie einen Papa. Das ist ein Mann, der den anderen sagt, was sie tun sollen, und obwohl sie ihn immer anlächeln, wenn sie ihn sehen, sieht es doch so aus, als zeigten sie ihm die Zähne und würden ihn beißen, wenn sie sich das trauen würden. Tun sie aber nicht. Ich verstehe sie. Sie werden nicht geschlagen, und ihn schlagen sie auch nicht, aber ich sehe, dass sie mich immer anschauen, anders als sie sich gegenseitig anschauen. Sie zeigen auch mir ihre Zähne, und ich kann an ihnen riechen, dass sie Angst vor mir haben. Das ist gut so.
    An einem Abend kommt großer Lärm aus dem Himmel. Eine gefleckte Maschine, in der Leute sitzen und die keine Räder hat, sondern obendrauf ein Windrad, das den Sand aufwirbelt und die großen Pflanzen
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