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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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wie ein Parfum. Ich liege da und flechte langsam meine langen weißen Haare zu Zöpfen, um sie aus dem Gesicht zu haben. Meine Haare sind dick und lästig, aber ich bin immer noch stolz auf sie. Ich bin alt, und ich habe mehr Haare als manche junge Frau. Es ist so heiß heute, und die lange vergessenen Geister der Kaffeerösterei steigen zu mir herauf und machen mich unruhig. Ich wohne über den verfallenen Räumen der Kaffeerösterei, schon seit ein paar Jahren. Natürlich wird dort kein Kaffee mehr geröstet. Die Räume stehen leer. Viele Räume. Ich wohne ganz oben. Die unteren Räume, die an der Straße, betrete ich nie. Abfall liegt dort in Haufen, welke Blätter sammeln sich in den Ecken. Um in mein Zimmer zu kommen, muss ich über die Dächer steigen und mich durch alle möglichen Höfe arbeiten. Manche Häuser sind eingestürzt oder abgebrannt. Es gibt kaum noch bewohnte Häuser in dieser Gegend, der verbotenen Zone. Es ist nicht erlaubt, hier zu wohnen. Die Ci-Po macht Razzien. Hier soll »Auroville« entstehen, die Trabantenstadt, das Lieblingsprojekt unseres Präsis. Irgendwann werde ich weiterziehen müssen. Ich weiß das. Aber noch nicht.Es ist Abend, und ich hocke vor den Kisten, in denen die Pilze wachsen, im Dunkeln, denn sie vertragen kein Licht. Ich hocke im feuchten Geruch und taste behutsam nach den glatten Halbkugeln, schätze ihre Größe, und mein Herz klopft vor Freude über das neue Wachstum. Wenn man älter wird, hat man nur noch wenige Freuden, eine davon ist, Dinge beim Wachsen zu beobachten.
    Ich denke den ganzen Tag an mein Abendessen.
    Das Messer liegt neben mir, und ich fasse es und führe es sorgsam flach über dem feuchten Erdreich an die kleinen Stämmchen und überlege, wie viele ich mir heute Abend erlaube. Über mir knackt es, und Putz rieselt auf meine Hände. Verdammtes Getier. Etwas kriecht da oben herum, auf dem Dach über mir. Ich weiche zurück an die Wand. Die morsche Decke ächzt und splittert. Ich warte bewegungslos, das Messer in der Hand. Ein Geräusch, ein abscheuliches Geräusch, gefolgt von einem Schlag, einem Aufprall, der den Holzboden unter mir zittern lässt. Etwas Schweres ist heruntergefallen, nicht auf mich, aber auf die Pilze, meine empfindsamen Plantagen am anderen Ende des Zimmers. Ich bring das Vieh um! Schon bin ich an der Tür und reiße sie auf, das Messer in der Hand. Ich kann umgehen mit einem Messer. Zeig dich, Mistding!
    Es ist ein Mensch, er hockt am Boden in einer Staubwolke. Ein großer Mensch, mehr sehe ich nicht. Vielleicht gefährlich. Sicher gefährlich. Ich schlage die Tür zu und verriegle sie, aber das wird nichts nützen, dieses Türchen, morsch und wacklig, wird niemanden aufhalten. Flucht. Ich stecke das Messer in den Gürtel und renne durch den Gang hinaus auf den gusseisernen Balkon, der um denHof läuft. Auch in diesem Moment vergesse ich keinen Augenblick, wo die offenen Stellen im Blechboden sind, die fehlenden Gitterstäbe, die Fallen, die ich aufgestellt habe für ungebetene Gäste. Ich verstecke mich auf halber Höhe in dem Glashäuschen, das einmal der Lift war. Die Türen lassen sich aufschieben, wenn man weiß, wie. Der Hof ist hell vom Nachthimmel über Megacity. Ich wische ein Guckloch in die Glasscheibe, nicht groß, nur für ein Auge. Warum habe ich meinen Stock nicht mitgenommen? Ich warte. Nichts rührt sich. Die Vögel, die aufgestoben sind nach meiner hastigen Flucht, haben sich wieder niedergelassen. Sie werden mich warnen. Ich warte. Ich friere. Nachts wird es kalt.
    Gegen Morgen schleiche ich mich die Treppen hinunter zu meinem Vorratsdepot. Es gibt nichts Wichtigeres als das Versteck für meine Vorräte, in diesem gekachelten Raum mit den zerbrochenen Waschbecken und Toiletten, den geborstenen Spiegeln. Ich sehe mein zersplittertes Gesicht. Die vielen weißen Haare, selbst geschnitten, aber schön, mein Pelz, darunter sehen mich meine ängstlichen Augen aus ihren dunklen Höhlen an. Der große farblose Mund verzerrt vor Anstrengung. Ich horche hinaus. Eine Alte, hässlich und vertraut. Ich war mal eine so schöne Frau. Ich versuche zu lächeln. An den Rohren unter der Decke, an denen meine Kräuter hängen, meine Plastiktüten mit Nüssen, mit getrockneten Fischen, atme ich erleichtert auf. Alles ist wie immer. Die Kerzen sind in ihren Kisten. Ich leuchte herum. Niemand ist hier eingedrungen. Nichts ist zerstört, nichts scheint zu fehlen. Ich stelle die Kerze in einleeres Glas und trage sie Schritt um Schritt zu
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