Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
Vom Netzwerk:
meinem Zimmer. Das Feuer im Kamin ist ausgegangen und raucht. Der Topf mit Wasser steht noch in der Asche. Es ist ganz still. Niemand ist hier. Ich halte die Kerze hoch, stehe noch immer unter der Tür, um zu fliehen, wenn es sein muss.
    Da liegt jemand auf meinem Sofa. Ich packe den Stock, der hinter der Tür steht, fest mit beiden Händen. Die Kerze habe ich ausgeblasen. Ich warte. Ich warte lange. Jemand atmet, schnarcht leise. Es klingt heimelig. Es ist viele Jahre her, seit ich einen Mann habe schnarchen hören. Es klingt wie ein Mann. Den Stock über meinen Kopf gehoben, nähere ich mich dem Sofa und sehe im dämmrigen Licht ein Gesicht auf meinem Kissen. Seltsamerweise erschrecke ich nicht. Was habe ich erwartet? Ich zünde die Kerze an. Er wacht nicht auf. Noch kann ich fliehen, aber ich bin so müde. Wohin soll ich gehen? Ich schaue ihn an. Er gefällt mir sofort. Nein, das ist nicht das richtige Wort. Ich erkenne ihn sofort als ein Geschenk der Großen Mutter, für mich. Er ist mir zugeteilt worden. Er ist für mich gemacht worden. Er ist eine Spezialanfertigung, ein Geschenk, ich hoffe, auch er weiß das. Aber wie er da liegt und schläft, arglos, ja geradezu dümmlich zutraulich, glaube ich, mit uns wird alles gut werden. Habe ich keine Angst vor ihm? Nein. Aber natürlich denke ich, dass er vielleicht im nächsten Augenblick die Augen öffnet und wie ein Teufel über mich herfällt, um mich zu töten. Na, dann wird er mich eben töten. Ich habe lange genug alleine überlebt. Ich habe keine Lust mehr dazu. Es ist so langweilig. Hoffentlich kann er mit mir sprechen. Hoffentlich ist er nicht verrückt. Vielleicht ist er sterbenskrank, oder er will meineVorräte plündern, sich vollfressen und sofort weiterziehen. Wer weiß das.
    Er ist kein Mensch. Ich hebe die Kerze und schaue ihn genauer an. Doch, er ist ein Mensch, aber es gibt noch andere Vorfahren, die ihre Gene zu seinem menschlichen Erbe mischen. Eine Anomalie. Er hat spitze Ohren, er hat eine dunkle Nase, seine Schulter ist dicht behaart. Er hat eine lockige Mähne. Wie schön er ist. Jemandem ist es endlich gelungen, Tier und Mensch zu kreuzen. Ein wahres Wunder, diese schlafende Chimäre auf meinem Bett! Ein weiteres Wunder – bei mir ist er gelandet. Ich blase die Kerze aus und mache mir ein Bett in der Ecke aus Tüchern und Kleiderbündeln. Er wacht nicht auf dabei.
    Ich stehe noch mal auf und danke für das Geschenk. Verneige mich vor der Großen Mutter. Verspreche eine Opfergabe von frischen Blumen. Morgen. Wenn ich morgen noch lebe. Wenn ich es morgen schaffe, zum Rand des verbotenen Parks zu kommen. Die Große Mutter sorgt noch immer für mich. Das glaube ich, obwohl sie mir gesagt haben, sie schere sich keinen Deut um solche wie mich. Ich bin weggelaufen. Im Ashram wird Ungehorsam nicht geduldet. Eine Gayanerin muss sich fügen in die Beschlüsse des Großen Rates, der die Gebote der Großen Mutter vertritt. Ich bin durch die Kanäle gekrochen. Ich habe vorher die junge Kriegerin niedergeschlagen. Ich hatte keine Zeit für all den Zinnober, all diese Meetings und Selbstbezichtigungen, das Krafttraining, das Singen, den Küchenappell, das Pflegesoll, das verlogene Gerede – all dieser Käse.
    Ich bin nur so lange geblieben, bis Becky ihr Baby bekam.Becky ist schwarz und rebellisch, und nur mit mir hat sie gesprochen. Sie hat mir von ihrem herrlichen Essen gegeben, das Essen für Schwangere, und manchmal durfte ich nach ihr in das Badewasser. Alle warteten auf das Kind wie auf ein Wunder, es war das zweite Kind in drei Jahren. Die Gayanerinnen sind auf dem Weg ins Nichts. Sie werden aussterben. Ich habe an sie geglaubt. Ich war eine von ihnen. Das ist lange her. Es gibt keine Kinder mehr bei uns. Das wundert mich nicht, und das kümmert mich nicht.
    Das gute Essen fehlt mir und die Gespräche mit den anderen Frauen. Obwohl viele grauenhaft langweilig waren mit ihren Klagen und Ängsten und einige sowieso nur darauf warteten, abzutreten. »In Würde«, wie es die Regeln vorschreiben. Ich pfeife auf die Würde. Wenn man alt ist, darf man nicht mehr ins Männerhaus. Sie sagen, das sei »würdelos«. Ich muss lachen. Natürlich haben unsere Obermütter immer jeden bekommen, den sie sich ausgesucht hatten, auch wenn alle wussten, dass sie nie mehr befruchtet werden würden, diese Heuchlerinnen, diese fetten Machtkühe, diese Verbrecherinnen, wie Fesselballons in ihren bestickten blauen Kleidern. Ich wollte das blaue Zeug in den Kanal werfen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher