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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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aber die Sachen sind aus gutem Material, in den eigenen Werkstätten gesponnen, gewebt, gefärbt, genäht. Ich habe große Achtung vor gutem Handwerk. Heute bin ich froh, sie kleiden mich noch immer. So ein schönes Blau, dieser Stoff, von unseren eigenen Flachsfeldern, wenn auch verblichen.
    Ich habe die Männer immer geliebt, obwohl sie nicht eigentlich nett sind, nett waren sie nie, kein Einziger, an den ich mich erinnere. Aber das gefiel mir. Immer hat’s mirmit ihnen gefallen. Warum auch nicht? Wenn du genug von einem hattest, kam er zurück ins Männerhaus. Nur Nummer 523 habe ich geliebt. Ich nannte ihn Paul. Sein Hintern war schön und behaart wie eine von diesen Coco de Mer. Ich hatte so eine Coco de Mer, so eine wunderschöne Nuss, sie lag auf meinem Labortisch, damals, in meinem früheren Leben, als ich noch Chemikerin war an unserer Uni und als ich noch herumreiste, um aussterbende Pflanzen und Samen zu sammeln, um ihre Heilkraft zu ergründen. Ich war einmal eine brillante Chemikerin. Jetzt sammle ich essbare Kräuter am Straßenrand, und die Nüsse stammen aus dem verwilderten Garten einen Tagesfußmarsch von hier. Die Fische sind aus dem Stausee. Ich weiß nicht, ob sie kontaminiert sind, aber das ist mir gleich. In meinem Alter ist es wichtiger, dass sie mir schmecken. Ich habe Chilipflanzen, Zitronenbäumchen und Bohnen oben auf dem Dachboden, wo früher ein Atelier war mit Deckenfenster. Es stehen noch Plastiken herum. Ich habe ein Figürchen am Boden gefunden, eine Schwangere, und sie genommen für meinen Altar. Eine kleine unfertige, roh geformte Frau aus gelbem Ton. Nicht größer als eine Puppe. Sie hockt mit geöffneten Schenkeln und schaut mit verdattertem Froschgesicht auf den Kopf des Kindes, der sich zwischen ihren Beinen hervorreckt, rot bemalt. Ich dachte ja zuerst, es wäre ein fetter Phallus. Sie gefällt mir. Ihr Gesicht ist fein geformt, der offene Mund, die winzigen Ohren, auch ihr Gesicht ist rot gefärbt. Ich habe einen lachenden Mund in den Säuglingskopf geritzt und Schlitzaugen. Ich bin das, die da geboren wird. So sehe ich das. Mein neues Leben. Ich habe keinesfalls vor abzutreten – in Würde.
    Nun hat die Große Mutter mir einen Mann geschickt, keinen ausgewachsenen, das sehe ich, keinen normalen, das sehe ich. Ein Geschöpf ihrer Laune. Eine Anomalie. Eine Chimäre. Er schnarcht und schläft wie ein Kind in meinem Bett. Ich gehe ihn noch einmal ansehen.
    Es ist spät. Zeit zu schlafen, auch für mich. Ich werde ihm einen Namen geben. Ich werde ihm meinen Namen sagen. Vor langer Zeit hieß ich Lilian. Ein schöner Name. Ich sehe die Blüten vor mir, wie sie zittern im Wind vor meinem Fenster, weiße Lilien. Es ist Frühling. Ich sitze in meinem Haus an meinem Arbeitstisch und trinke Kaffee. Was gäbe ich für diese Tasse Kaffee und für diesen Moment mit Sonne auf den Büschen und, ja, Vogelstimmen im Garten. Vogelstimmen. Ich fühle den Schlaf kommen.

NIN
    Ich liege in meinem Bett, zu Hause, und liege doch nicht in meinem Bett. Ich bin noch immer in diesem Käfig, in diesem glitzernden heißen Raum ohne Luft, ohne Geräusche.
    Mein Bett hat weiße Vorhänge, durchsichtig, sie kräuseln sich wie eine Flüssigkeit, die sich in Wasser langsam auflöst. Wo kommt dieses Bild her, wann habe ich so etwas gesehen? Ich weiß es nicht. Das Haus fragt mich, wie es mir geht, aber ich antworte nicht. »Bleib liegen«, sagt das Haus, als ich aufstehen will. Ich teile die Vorhänge vorsichtig mit den Händen, das Material ist empfindlich, daran erinnere ich mich jetzt. Ich gehe hinunter, die eine Treppe, die andere Treppe, den Gang entlang, und schalte die flimmernde Wand ein, das große Pam. »Geh ins Bett zurück«, sagt das Haus. Es spricht diesmal mit einer Frauenstimme, die ich kenne und hasse. Mama sagt, es wäre die Stimme einer großen Sängerin, aber sie singt gar nicht, sie näselt. Manchmal singt sie abends für mich: Schlaflieder. Ich bin kein Kind mehr.
    »Sei still«, sage ich, und da lacht sie. Soll sie doch. »Wie du willst«, sagt sie. Ich tappe zurück, lege mich unter die Decke, mache die Augen zu.
    Ich versuche, mich wegtragen zu lassen vom Schlaf, und fast gelingt es mir. Aber dann falle ich zurück, zurück auf dieses harte Lager am Boden, wo ich liege wie abgestürzt,und nichts höre als meine Atemzüge in der unerträglichen Stille. Nur wenn der Alte kommt, in seinem lächerlichen weißen Kittel, höre ich seinen Schlüssel im Schloss, seine Schritte, seinen
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