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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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aufschneiden und in ihm herumwühlen mit ihren Sonden. Ist er tot? Wo ist er?«, schreie ich.
    »Für ihn ist gesorgt«, sagt die Zuhörerin. »Sei ganz ruhig, beruhige dich. Alles ist gut.«
    Und da weiß ich, auf welcher Seite sie steht, und ich schließe die Augen und sage dem Haus, die Zuhörerin wolle jetzt gehen.

TARA
    Auf meinem Sofa schläft und schläft er. Er verschläft den ganzen Morgen. Ohne sich zu bewegen. Ich horche, nahe an seinem Gesicht. Er atmet gut, fiebrig ist er auch nicht. Es ist ein gutes Zeichen, dass er so schlafen kann. Ein gefährlicher, angriffslustiger Mann würde nicht so arglos schlafen, sage ich mir, um mich zu beruhigen. Aber natürlich ist er kein normaler Mann. Auf was habe ich mich eingelassen?
    Draußen ist früher Sommer, und im verbotenen Park blühen die Laubbäume. Ich rieche es bis hierherauf in unser Zimmer. Es ist so schön, dass die Bäume noch duften wie früher. Vielleicht kann ich frische Blumen finden für Mas Altar.
    Downtown Megacity stehen viele Menschen, dicht gedrängt vor dem großen Pam, und starren auf den riesigen fleckigen Schirm, den sie für die Leute der Unterstadt installiert haben, am Avatar-Platz, hoch oben über dem Gewimmel. Ich sehe sofort sein Gesicht. Riesengroß, dieses erschreckend fremde Gesicht, dieses erschreckend schöne Gesicht. Die aufgestellten Ohren. Die kurze Mähne. Die kräftigen Eckzähne.
    Sie suchen nach ihm. Sie sind noch lange nicht fertig mit ihm. Sie haben noch nicht einmal richtig angefangen mitihren Untersuchungen. Sie haben noch auf die Koryphäen der Gentechnik gewartet, die von überall her angereist kommen. Und da ist Boris, mein alter Studienkollege, mein alter Geliebter. Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen. Ich muss lächeln. Boris. Er ist aufgestiegen. Leiter der Alox. Nicht übel. Das hat er ja immer gewollt, der gute alte Boris. Er genießt seinen Auftritt, das sehe ich, und plustert sich auf. Er prangert die Lücken des Sicherheitsnetzes an, die Zustände im Institut. Er ist alt geworden. Ich sehe zu, wie er sich ereifert, mit malenden Kiefern, sich aufgebracht das Haar rauft. Sie haben eine hohe Belohnung auf ihn ausgesetzt, sie nennen ihn den Mutanten. Eine horrende Summe als Belohnung. Das gefällt mir. Im Institut hat man ihn untersucht, ihn befragt, ihn fotografiert. Aber sie sind noch lange nicht fertig mit ihm.
    »Wer weiß, was sie mit dem Vieh machen, wenn sie es eingefangen haben?«, sagt ein Mann neben mir.
    »Na, der Präsi darf Jagd auf es machen. Die können ja dann jede Menge davon klonen, oder?«
    »Eine Schlappe, die die Wissenschaft um Jahre zurückwirft. So eine Sauerei!«, ruft eine haarlose Frau. »Lassen das gefährliche Biest entkommen.«
    »Diese Idioten. Alles verfluchte Oberstädtler, diese Wissenschaftlerbande, natürlich«, sagt eine Frau mit dicker Brille.
    Jetzt ist Boris wieder auf dem Schirm.
    »Das Subjekt ist schwer betäubt und hat sich verkrochen. Es ist krank und braucht dringend medikamentöse Behandlung. Es ist noch kontaminiert. Nicht auf eigene Faust festnehmen. Sofort melden. Wer Kontakt zu ihm hat und dasnicht meldet, macht sich strafbar. Wir zählen auf die Hilfe von jedem Einzelnen. Erweisen Sie Ihrem Land einen Dienst.«
    »Belohnung! Belohnung!«, rufen die Leute neben mir. Boris lächelt und wendet sich mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.
    »Ich höre gerade, die Ci-Po hat das Subjekt geortet«, ruft er hinunter zu der brodelnden Masse auf dem Avatar. »Es kann sich nur noch um Minuten handeln, dann ist die Anomalie eingefangen.« Er hebt die Hand. »Wir informieren Sie selbstverständlich. Er hat sich in den Glashäusern unseres Präsis, lang möge er leben, verkrochen. Die Ci-Po meldet baldigen Zugriff.«
    Ein guter Lügner war Boris schon immer.
    Das reglose Gesicht auf dem Schirm. Sie zeigen ihn noch einmal. Wie blass er ist. Die Menschen um mich herum schreien, lachen und pfeifen. »Löwenmensch!« – »Monster!« – »Sieh dir diese Schnauze an!«
    Ich stehe eingepfercht in der Menge und sehe sein Gesicht noch einmal ganz nah, hell, unwirklich. Seine Augen halb geschlossen, seine Ohren eng am Kopf. Die Nase wie aufgemalt. Seine dunklen Lippen. Ein Eckzahn ist zu sehen. Er sieht aus wie tot. Ich werde hin und her geworfen von Leuten, die sich an mir vorbeischieben, stehen bleiben, weiterdrängen.
    Wem ist dieses Prachtstück gelungen? Wer hat ihn erschaffen? Wer ist dazu fähig? Einmal kannte ich alle Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Ich kannte die
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