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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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Atem, seine Stimme. Er ist kein Arzt. Er bringt mir zu essen und sitzt vor den Stäben, um mich zu beobachten. Ich schließe die Augen und rühre mich nicht. Er hockt da und wartet.
    »Warum bin ich hier?«, frage ich.
    »Nichts wird dir geschehen«, sagt er.
    »Ich will nach Hause«, sage ich, und er sagt: »Bald.«
    »Was wollen Sie mit mir machen, wollen Sie Geld? Sie wissen, wer meine Eltern sind, sie würden Ihnen alles geben, was Sie für mich verlangen.«
    »Ich weiß das.«
    »Und?«
    »Ich will kein Geld.«
    »Sondern?«
    »Du wirst mir etwas geben, was ich brauche. Du bist die Richtige dafür. Ich habe dich gefunden.«
    »Warum ich?«
    »Ach, Mädchen«, sagt er. »Es muss dir genügen, dass dir kein Haar gekrümmt wird. Im Gegenteil. Ich mache dich unsterblich.«
    Ich sage mir, er ist verrückt, aber er wirkt nicht wie einer, der verrückt ist. Er schert sich nicht darum, wie’s mir geht, als wäre er kein Mensch, der weiß, was Menschen fühlen. Wenn das ein Zeichen für Irrsinn ist, dann ist er irrsinnig.
    »Wo bin ich hier?«
    Er geht hinüber zu seinem Tisch und hantiert dort mit seinen Apparaten. Müde ist er und gebeugt, und ich habeLust, ihn niederzuschlagen, ihm seinen fetten Kopf abzureißen, seinen hässlichen hin und her pendelnden Kopf, den er über den Tisch streckt, im Licht der Neonleuchten. Ich mache die Augen zu und wünsche mir, dass er hinfällt, röchelt, und Blut spritzt auf seine weißen Tücher und fein geordneten Bestecke.
    »Wo sind wir hier?«, sage ich, und er lächelt mich an. »Im Auge des Sturms«, sagt er. »Im Morgenrot einer neuen Welt.«
    Ich weine. Ich schluchze und schreie. Ich verfluche ihn und drohe ihm. Ich trete nach dem Teller mit Essen. Ich schlage meinen Kopf gegen die Stäbe.
    »Hör auf, Mädchen! Du wirst dich verletzen«, sagt er. »Hör auf, oder ich gebe dir eine Spritze.« Das hat er schon getan, er ist stärker als ich, und er fällt auf mich wie ein schwerer muffiger Sack und erstickt meine Schreie und bringt meine zappelnden Glieder zum Stillstand.
    Am Anfang, als ich noch sprechen kann, sind meine Tage gleichförmig und dehnen sich, als vergingen Monate. Später versuche ich, sein Herz zu erweichen, ich erzähle ihm von meiner Familie, beklage mich nicht mehr, ja, versuche sogar, ihn zum Lachen zu bringen. Alles ist mir recht, nur nicht dieses Alleinsein, nur nicht dieses Warten auf das Geräusch seines Schlüssels.
    »Ich brauche Bewegung, sonst sterbe ich«, sage ich.
    »Ich brauche Beschäftigung, sonst sterbe ich«, sage ich.
    Er hockt vor dem Käfig und schweigt. Sein weißes Haar im Licht wie Rauch, seine Augen hinter der Brille, übergroß und unverwandt auf mich gerichtet.
    Nachts führt er mich hinaus und kettet mich an einen Pflock, mitten im Sand zwischen den Steinen. Meine Kette ist lang, wie die von einem gefährlichen Tier, das zur Schau gestellt wird. Aber es gibt keine Zuschauer. Nur ihn, bis er mich allein lässt.
    »Verschaff dir Bewegung«, sagt er. »Mehr kann ich nicht für dich tun.«
    Mein Mund ist zugeklebt, ich kann nicht schreien, aber ich winsle, durch die Nase. Es ist nicht laut. Wenn ich das Klebeband abreiße, darf ich nicht mehr raus.
    Nachts ist es heiß, und der Himmel steht voller Sterne. Ich höre nur den Wind und die kleinen Geräusche der Nacht. Vogelrufe und Insektensurren. Kein menschlicher Laut.
    Manchmal fällt Regen, und ich liege im Sand und schluchze. Ich liebe den Regen. Manchmal möchte ich singen, um mir Mut zu machen, aber kein Ton kommt heraus. Ich kann auch nicht mehr antworten, wenn er mich fragt, wie es mir geht. Was soll diese Frage? Ich starre ihn an und schweige.
    »Dann lass es«, sagt er und greift durch die Stäbe, und seine groben Hände betasten meine Arme und Beine. »Es geht dir gut«, sagt er, und ich möchte schreien. Aber da ist keine Stimme mehr.
    Ich bin wieder zu Hause. Ich sitze vor dem Pam, vor der flimmernden Wand, und sehe Löwen, die durch hohes Gras streifen. Rote Vögel, die im Schlamm herumstochern mit langen Schnäbeln. Löwen gibt es nicht mehr. Sie sind ausgerottet, sagt Mama, aber sie ist nicht bei mir. Mamaspricht zu mir, aus dem Pom, dicht neben meinem Ohr. »Wir sind morgen zurück, mein Liebling«, sagt ihre Stimme. »Die Zuhörerin kommt um drei Uhr. Lass Tee bringen. Du isst, was du willst. Bestell dir, was du willst.«
    »Kuchen«, sage ich, »Kuchen mit Erdbeeren.« Und da ist der Kuchen. Ich nehme ihn von der Konsole. Aber ich esse ihn nicht, diesen Kuchen. Er
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