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Mingus

Mingus

Titel: Mingus
Autoren: Keto von Waberer
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es beißt mich in die Hand. Ich kriege es am Hals zu fassen und schüttle es. Es hält still und starrt mich an mit verdrehten Augen. Es sieht nicht aus wie Papa, aber auch nicht wie die Kleinen. Und doch hat es wie er und ich Arme, Beine und einen Kopf auf ebendiesem Hals, den ich etwas zudrücke, um ihm das Beißen auszutreiben. Ich schüttle es noch ein bisschen, und es macht sich ganz schlaff und schwer, und ich hebe es auf und trage es durch die Tür hinaus in die Dämmerung, denn die Sonne ist schon verschwunden, nur der Himmel ist noch hell.
    Im Haus will ich ihm Wasser geben und Fleisch. Es sieht mager aus, wie die Kleinen, und ich will nicht, dass es stirbt. Ich bin froh, dass ich es gefunden habe, und ich bin froh, dass ich nicht alleine bin. Ich lege es auf Papas Bett, Papa hebe ich auf und trage ihn hinüber und hocke ihn in die Käfigecke – drüben im Metallhaus. Dann nehme ich den Stock und zerschlage diese hässlichen gleißenden Würmer, die von der Decke hängen und meinen Augen wehtun, und ich schließe die Tür ab.
    Das ist besser, als unter der Erde zu liegen, sage ich mir, und ich bin erleichtert.
    Das Ding hat keine Lust, sich zu bewegen. Ich horche an seiner Brust und höre das Herz schlagen und höre die Luft, die eingesogen wird und wieder hinausgeblasen durch den offenen Mund. Kleine flache Zähne.
    In Papas Bett ist es sehr eng für uns, und ich drücke mich an die Wand und lege meine Arme und Beine um das Ding. »Du bist mein kleiner Bruder, oder was?«, sage ich in sein Ohr. Ich habe Lust, ihn zu schütteln, ihn zu einer Antwort zu zwingen. Ich würde Papa gerne fragen, ob das mein Bruder ist, aber er ist nicht mehr da. Auch in meinem Kopf spricht er nicht, so als könnte er durch diese Metallwände da drüben nicht mehr bis zu mir gelangen mit seiner Stimme. Ich finde das gut so.
    Er kann nicht sprechen.
    Er trinkt Wasser und stopft sich Essen in den Mund, alles, was noch da ist in der Winterkiste. Grünes, Rotes, Gelbes, kein Fleisch. Das ist für mich. Er hockt auf dem Boden, so wie ich hocke. Ich versuche, ihm in die Augen zusehen, aber er lässt mich nicht. Er hat goldenen Dreck an der Stirn, und ich will ihn abkratzen. Er weicht meiner Hand aus. Die Tür hab ich abgesperrt, er schaut oft zur Tür. Er trägt jetzt etwas von meinen Sachen. Ein Hemd, es reicht ihm bis über die Knie. Ich will ihn in die Wanne voll Wasser setzen, aber er zappelt wild. Ich setze mich selbst hinein und seife mich ab. Ich versuche ihm zu zeigen, dass das gut ist. Haare scheint er nur am Kopf zu haben. Seine Nägel sind lächerlich. Vielleicht ist er krank.
    Die Sonne geht auf und unter – wieder und wieder. Ich sehe, dass es ihm besser geht. Wir essen alles, was wir finden, in Truhen, in Säcken, in Tüten, in Dosen. Manches müssen wir lange kochen, ehe es weich genug ist. Ich kann das, aber wie sich zeigt, kann er das auch. Er ist geschickt mit seinen lächerlich kleinen Händen. Er wickelt einen Fetzen Stoff um meine verletzte Hand, als hätte er das schon oft gemacht. Er macht Dosen auf, schneller als ich. Er versucht, die Tür aufzukriegen, wenn ich schlafe. Von da an verstecke ich die Schlüssel, und nachts halte ich ihn fest, ich merke sofort, wenn er sich losmachen will. Er will nicht, dass ich zusehe, wenn er pinkelt.
    »Wir gehen!«, sage ich und packe Papas Tasche mit allem, was wir vielleicht brauchen. Kleider, Messer, Wasserflaschen, Decken. Sogar einen Topf nehme ich mit, vielleicht müssen wir was kochen. Papa hat mir nie erlaubt, alleine Feuer zu machen. Ich nehme alle Streichhölzer mit und alle Kerzen. Ich weiß nicht, wie lange wir damit auskommen.
    Die Sonne steht schon hoch.
    Ich schließe die Tür ab. Ich warte darauf, dass er losrennt und zwischen den Steinen verschwindet, aber er bleibt neben mir stehen. Da ist Papas Maschine unter ihrer glitzernden Zeltblase. Ich gehe um sie herum. Der Kleine klettert hinein und wartet. Papa sagt, man braucht einen Zauberspruch, um die Maschine zum Leben zu erwecken, um dann von ihr fortgetragen zu werden. Wir wissen den Zauberspruch nicht. Der Kleine will nicht glauben, dass wir die Maschine nicht wecken können, das sehe ich. Er drückt auf alle möglichen Knöpfe und Fensterchen. Er schlägt mit seinen Fäusten auf das Rad, mit dem Papa dem Ding sagen kann, wohin es ihn tragen soll. Ich sehe zu und lache. Ich gehe los.
    Man kann Papas Weg sehen, an den Spuren im Sand. Der Kleine bleibt sitzen, und als ich mich umschaue, sehe ich, dass er
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