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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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schweifen. Sie unterhielten sich wieder, noch etwas gedämpft, aber die Lautstärke nahm schon wieder zu. Madame Luzeron goss allen Champagner ein. Nico wandte sich Michèle zu, Paupaul flirtete mit Madame Pinot. So weit ich esmitbekam, war man sich allgemein einig, dass Thierry zu viel getrunken hatte und dass alle seine Drohungen nichts als heiße Luft waren – bestimmt war nächste Woche alles wieder vergessen, denn die Chocolaterie war längst ein Teil von Montmartre und konnte genauso wenig verschwinden wie das Le P’tit Pinson .
    Aber jemand fehlte. Zozie war verschwunden.
    Und nirgends ein Zeichen von Anouk.

14

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 23 Uhr 15
    Es ist schon so lange her, dass ich Pantoufle das letzte Mal gesehen habe! Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt, wenn er in der Nähe ist und mich mit seinen pechschwarzen Augen beobachtet oder sich ganz warm an meine Knie kuschelt oder wenn er nachts auf meinem Kopfkissen sitzt, falls ich Angst bekomme vor dem Schwarzen Mann. Aber Zozie wartet schon, und wir müssen den Wind der Veränderung erwischen.
    Ich rufe Pantoufle mit meiner Schattenstimme. Ohne ihn kann ich nicht gehen. Aber er kommt nicht, er bleibt einfach beim Herd sitzen, und seine Barthaare zucken, und was für ein lustiges Gesicht er macht – komisch, ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn je so deutlich gesehen habe, jedes Härchen, jedes Barthaar, wie mit einem Scheinwerfer ausgeleuchtet. Und dann ist da dieser Geruch, der aus dem kleinen Topf herüberweht –
    Es ist nur Schokolade, sage ich mir.
    Aber irgendwie riecht sie anders. Wie die Schokolade, die ich als Kind immer getrunken habe, sahnig und heiß, mit Schokospänen und mit Zimt und mit einem Zuckerlöffel zum Umrühren –
    »Also?«, sagt Zozie. »Kommst du – oder kommst du nicht?«
    Wieder rufe ich Pantoufle. Aber auch diesmal hört er nicht auf mich. Klar, ich will gehen, ich will all die Orte sehen, von denen sie mir erzählt hat, ich will auf dem Wind reiten, ich will toll sein – aber da sitzt Pantoufle neben dem Kupfertopf, und irgendwie kann ich mich nicht losreißen.
    Ich weiß, er ist nur ein imaginärer Freund, und da ist Zozie, soreal und lebendig, aber in dem Moment fällt mir etwas ein, eine Geschichte, die Maman mir immer erzählt hat, von einem Jungen, der seinen Schatten verkauft –
    »Komm schon, Anouk.« Ihre Stimme ist scharf. Der Wind fühlt sich hier in der Küche jetzt so eisig an, und auf der Schwelle und auf ihren Schuhen liegt Schnee. Und plötzlich höre ich ein Geräusch aus dem Laden, ich rieche die Schokolade und höre, wie Maman meinen Namen ruft.
    Aber jetzt nimmt mich Zozie an der Hand und zieht mich durch die offene Hintertür. Ich rutsche über den Schnee, und die Kälte der Nacht kriecht unter meinen Umhang.
    Pantoufle!, rufe ich ein letztes Mal.
    Und endlich kommt er zu mir, ein Schatten, der über den Schnee hoppelt. Eine Sekunde lang sehe ich ihr Gesicht, nicht durch den Rauchenden Spiegel, sondern durch den Schatten von Pantoufle – und es ist das Gesicht einer Fremden, überhaupt nicht Zozies Gesicht, sondern verzerrt und zerdrückt wie eine Kugel aus Schrott, und alt, so alt, wie die älteste Ururgroßmutter der Welt, und statt Mamans rotem Kleid trägt sie einen Rock aus Menschenherzen, und ihre Schuhe sind Blut auf dem verwehten Schnee –
    Mit einem Schrei versuche ich, mich loszureißen.
    Sie macht das Jaguar-Zeichen, und ich höre, wie sie zu mir sagt, dass wir ein schönes Leben führen werden, dass ich keine Angst zu haben brauche, dass sie mich erwählt hat, dass sie mich will, mich braucht und dass sonst niemand sie versteht.
    Und ich weiß, ich kann sie nicht aufhalten. Ich muss fort. Ich bin zu weit gegangen, mein Zauber ist nichts im Vergleich zu ihrem – aber der Schokoladenduft ist immer noch so stark, wie der Geruch im Wald, wenn es geregnet hat, und plötzlich sehe ich etwas anderes, ein verschwommenes Bild: Ich sehe ein kleines Mädchen, nur ein paar Jahre jünger als ich. Es ist in einem Laden, und vor ihr steht eine schwarze Kiste, die so ähnlich aussieht wie der Sarg-Talisman an Zozies Armband.
    »Anouk!«
    Das ist Mamans Stimme. Aber ich kann sie nicht sehen. Sie istzu weit weg. Und Zozie zerrt mich in die Dunkelheit. Meine Füße folgen ihr durch den Schnee. Und das kleine Mädchen wird die Kiste öffnen, und in dieser Kiste ist etwas ganz Grauenhaftes, und wenn ich wüsste, was, dann könnte ich sie vielleicht
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