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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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zu – sie ist höchstens ein Dutzend Schritte von uns entfernt, aber ihre Farben sind nicht mehr da, und sie sieht aus, als würde sie träumen.
    Und ich möchte ihr sagen, dass alles nur Lug und Trug ist – Zozies Magie ist wie ein billiges Osterei, in glitzernde Folie verpackt, aber wenn man es auswickelt, ist nichts mehr da – und dann fällt mir ein, was Pantoufle mir vorhin gezeigt hat: das kleine Mädchen, den Laden, die schwarze Kiste und die Urgroßmutter, die in der Ecke sitzt und grinst, wie der große böse Wolf, der sich verkleidet hat –
    Und plötzlich finde ich meine Stimme wieder, und ich schreie es hinaus, so laut ich kann, ohne richtig zu wissen, was die Wörter bedeuten, aber ich weiß, dass diese Wörter aus irgendeinem Grund eine ungeheure Macht besitzen, es sind Wörter, mit denen man etwas heraufbeschwören kann, Wörter, die den Winterwind aufhalten –
    Ich rufe: »Zozie!«
    Sie sieht mich an.
    Und ich sage: »Was war in der schwarzen Piñata ?«

15

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 23 Uhr 25
    Das brach den Bann. Sie hielt inne. Sie starrte mich an, kam immer näher, bis ihr Gesicht ganz dicht vor meinem war. Ich roch den Gestank von toten Krabben, aber ich blinzelte nicht, ich schaute nicht weg.
    »Du wagst es, mir diese Frage zu stellen?«, zischte sie.
    Ich konnte ihren Anblick kaum noch ertragen. Ihr Gesicht sah wieder völlig anders aus, beängstigend, eine Riesin, ihr Mund eine Höhle mit verfaulten Zähnen. Das Silberarmband war ein Armband aus lauter Totenköpfen, und aus den Herzen, die ihren Rock bildeten, sickerte Blut – rotes Blut tropfte in den weißen Schnee. Sie war furchtbar, aber sie fürchtete sich, und hinter ihr sah ich Maman, mit einem komischen Lächeln auf dem Gesicht, als verstünde sie sehr viel besser als ich, was das alles zu bedeuten hatte.
    Sie nickte mir ganz kurz zu.
    Ich wiederholte den magischen Satz: »Was war in der schwarzen Piñata ?«
    Aus Zozies Kehle drang ein grässliches Krächzen. »Ich dachte, wir sind Freundinnen, Nanou«, schimpfte sie. Und plötzlich war sie wieder Zozie, die alte Zozie mit den Bonbonschuhen, mit dem scharlachroten Rock, den pinkfarbenen Strähnchen in den Haaren und den bunten Klimperperlen. Und sie sah so lebensecht aus, so vertraut, dass mir das Herz wehtat, weil sie sehr traurig zu sein schien. Ihre Hand auf meiner Schulter zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie flüsterte:
    »Bitte, Nanou – bitte, zwing mich nicht, es zu sagen –«
    Meine Mutter war nur noch zwei Meter weg. Hinter ihr standen die anderen auf dem Platz: Jean-Loup, Roux, Nico, Madame Luzeron, Alice, und ihre Farben waren wie das Feuerwerk am vierzehnten Juli, golden und grün und silbern und rot.
    Und plötzlich wehte der Duft von Schokolade durch die offene Ladentür zu mir, und ich dachte an den Kupfertopf auf dem Herd und daran, wie der Dampf mit geisterhaft flehenden Fingern nach mir gegriffen hatte, und ich dachte an die Stimme, die ich fast zu hören glaubte, die Stimme meiner Mutter, die flüsterte: Iss mich, genieß mich –
    Und ich dachte daran, wie oft sie mir Schokolade angeboten hat und wie oft ich Nein gesagt habe. Nicht, weil ich keine Schokolade mag, sondern weil ich sauer darüber war, dass sie sich so verändert hatte, weil ich ihr die Schuld gab, dass nichts mehr so war wie früher, und weil ich es ihr heimzahlen wollte und ihr zeigen, dass ich anders war.
    Es ist nicht Zozies Schuld, dachte ich. Zozie ist nur der Spiegel, der uns zeigt, was wir sehen wollen. Unsere Hoffnungen, unseren Hass, unsere Eitelkeit. Aber wenn man genau hinschaut, ist der Spiegel auch nur ein Stück Glas.
    Zum dritten Mal sagte ich laut und klar: »Was war in der schwarzen Piñata? «

16

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 23 Uhr 30
    Ich sehe es jetzt alles deutlich vor mir, wie Bilder auf einer Tarotkarte. Der dunkle Laden, Totenköpfe auf den Regalen, das kleine Mädchen, die Ururgroßmutter mit dem gierigen Gesicht.
    Ich weiß, dass Anouk das ebenfalls sieht. Selbst Zozie sieht es jetzt, und ihr Gesicht verändert sich dauernd, wird alt und wieder jung, mal Zozie, mal Herzkönigin, ihr Mund zuckt – sein Ausdruck geht von Verachtung und Unschlüssigkeit zu nackter Angst. Und jetzt ist sie nur noch neun Jahre alt, ein kleines Mädchen in einem Karnevalskostüm und mit einem silbernen Armband.
    »Du willst wissen, was darin war? Du willst es wirklich wissen?«, fragt sie.

17

    M ONTAG , 24 . D
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