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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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diese Geste auch etwas Mitleiderregendes, als könnte er es nicht ganz fassen, dass das Leben wieder einmal seinen hohen Perfektionsansprüchen nicht gerecht geworden war.
    »Ich war bereit, dich zu heiraten.« Er redete jetzt ganz schleppend vor lauter Selbstmitleid. »Ich hätte dir ein Zuhause geboten, dir und deinen Kindern. Die ja von einem anderen Mann sind. Und die eine deiner Töchter – also wirklich – schau sie dir doch an!« Er warf einen Blick auf Rosette in ihrem Affenanzug, undwie immer versteinerte sein Gesicht. »Schau sie dir an!«, wiederholte er. »Sie ist ja wie ein Tier. Krabbelt auf allen vieren. Kann noch nicht mal sprechen. Aber ich hätte für sie gesorgt – ich hätte ihren Fall den besten Spezialisten Europas vorgestellt. Dir zuliebe, Yanne. Weil ich dich geliebt habe.«
    »Sie wollen behaupten, Sie hätten sie geliebt?«, rief Roux.
    Alle Augen richteten sich auf ihn.
    Er lehnte in der Küchentür, die Hände in den Hosentaschen. Seine Augen funkelten. Seinen Weihnachtsmannmantel hatte er geöffnet, darunter trug er Schwarz, und die Farben erinnerten mich so an den Rattenfänger auf der Tarotkarte, dass es mir fast den Atem verschlug. Und nun redete er, mit lauter, harter Stimme, Roux, der Menschenansammlungen nicht ausstehen kann, der Szenen vermeidet, wo er nur kann, und der nie und nimmer eine Rede hält.
    »Sie geliebt?«, sagte er noch einmal. »Sie kennen sie doch gar nicht. Ihre Lieblingspralinen sind Mendiants , ihre Lieblingsfarbe ist Knallrot. Ihr Lieblingsduft ist die Mimose. Sie kann schwimmen wie ein Fisch. Sie hasst schwarze Schuhe. Sie liebt das Meer. Sie hat eine Narbe an ihrer linken Hüfte, weil sie einmal aus einem polnischen Güterzug gestürzt ist. Sie mag ihre lockigen Haare nicht, obwohl sie wunderschön sind. Sie mag die Beatles, aber nicht die Stones. Früher hat sie immer Speisekarten aus Restaurants geklaut, weil sie es sich nicht leisten konnte, dort zu essen. Sie ist die beste Mutter, die ich kenne –« Er schwieg einen Augenblick. »Und sie braucht Ihre Almosen nicht. Und was Rosette betrifft –« Mit diesen Worten hob er die Kleine hoch, so dass ihr Gesicht fast sein eigenes berührte. »Rosette ist kein Fall . Sie ist perfekt.«
    Einen Moment lang schien Thierry völlig verdattert. Aber dann wurde ihm einiges klar. Seine Miene verfinsterte sich, sein Blick wanderte von Roux zu Rosette und von Rosette zurück zu Roux. Die Wahrheit ließ sich nicht verleugnen; Rosettes Gesicht ist zwar nicht so kantig, ihre Haare sind heller, aber sie hat seine Augen und seinen spöttischen Mund. Nein, jeder Zweifel war ausgeschlossen.
    Thierry wollte auf dem frisch geputzten Absatz kehrtmachen, was als schnittige Bewegung gedacht war, aber leider dadurch etwas angekratzt wurde, dass er mit dem Hintern gegen den Tisch stieß und ein Champagnerglas auf den Boden warf, das auf den Fliesen zersplitterte, wie eine Explosion falscher Diamanten. Doch als Madame Luzeron die Scherben auflesen wollte –
    »Hallo, Glück gehabt!«, rief Nico. »Ich würde schwören, ich habe gehört, wie –«
    Es war genau wie bei dem Schälchen aus blauem Muranoglas, das mir vor ein paar Wochen hinuntergefallen ist, aber jetzt habe ich keine Angst mehr. Ich schaute Rosette an, auf dem Arm ihres Vaters, und ich war weder sauer noch verängstigt noch nervös, sondern unglaublich stolz.
    »Na ja, demnächst ist hier sowieso Schluss.« Thierry stand in der Eingangstür, riesengroß in seinem roten Kostüm. »Hiermit kündige ich dir nämlich. Ein Vierteljahr bleibt dir noch, wie vereinbart, aber danach mache ich den Laden zu.« Er schaute mich an, mit dieser hinterhältigen Fröhlichkeit. »Oder hast du etwa gedacht, du könntest hierbleiben, nach allem, was passiert ist? Das Haus gehört mir, falls du das vergessen haben solltest, und ich habe Pläne, in denen du nicht mehr vorkommst. Ich wünsche dir noch viel Spaß mit deinem kleinen Pralinengeschäft. Und an Ostern heißt es dann: raus hier.«
    Ich hörte das ja nicht zum ersten Mal. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, packte mich keineswegs die große Angst, nein, verblüffenderweise war ich wieder stolz. Das Schlimmste war eingetreten, und wir hatten es überlebt. Der Wind der Veränderung hatte wieder gesiegt, aber diesmal empfand ich es nicht als Niederlage. Im Gegenteil, ich war wie berauscht und bereit, den Furien entgegenzutreten.
    Und dann kam mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke. Ich ließ meinen Blick über die Gäste
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