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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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Jahr mit vierundneunzig –, aber es bedeutet, dass jeder, der meine Gespräche zu orten versucht, auf Probleme stößt. Auch mein Internetkonto läuft unter ihrem Namen und ist ausgeglichen. Noëlle ist ein kostbarer Schatz, den ich keinesfalls aufgeben will. Aber sie wird nie meine Hauptidentität werden. Schon allein deswegen, weil ich keine vierundneunzig sein möchte. Und ich habe es satt, ständig Werbung für Treppenlifte geschickt zu bekommen.
    Meine letzte öffentliche Persona war Françoise Lavery, Englischlehrerin am Lycée Rousseau im 11 . Bezirk. Zweiunddreißig Jahre alt, in Nantes geboren, verheiratet, aber schon nach einem Jahr verwitwet, weil Raoul Lavery am Abend vor unserem ersten Hochzeitstag bei einem Autounfall ums Leben kam – eine traurig romantische Note, fand ich, die Françoise’ etwas melancholische Aura erklärt. Sie lebt strikt vegetarisch, ist schüchtern und sehr fleißig, aber eben nicht talentiert genug, um für irgendjemanden eine Bedrohung darzustellen. Insgesamt eine sympathische junge Frau – was wieder einmal beweist, dass man Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen sollte.
    Heute bin ich allerdings jemand anderes. Fünfundzwanzigtausend Euro sind kein Pappenstiel, und bei solchen Summen besteht immer die Möglichkeit, dass jemand Verdacht schöpft. Die meisten Leute sind arglos – sie würden ein Verbrechen nicht einmal bemerken, wenn es direkt vor ihren Augen passiert –, aber ichhätte es nie so weit gebracht, wenn ich zu viele Risiken eingegangen wäre. Und ich habe gelernt, dass es sicherer ist, in Bewegung zu bleiben.
    Deshalb reise ich mit leichtem Gepäck – nur mit einem alten, abgewetzten Lederkoffer und einem Laptop von Sony, in dem die zentralen Merkmale von über hundert Identitäten gespeichert sind. Ich kann in Windeseile all meine Habseligkeiten packen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Um alle Spuren zu löschen, brauche ich nicht mal einen Nachmittag.
    Auf diese Weise ist Françoise verschwunden. Ich habe alle ihre Papiere verbrannt: Korrespondenz, Bankunterlagen, Notizen. Ich habe sämtliche Konten in ihrem Namen aufgelöst. Bücher, Kleider, Möbel und den übrigen Kram habe ich dem Roten Kreuz vermacht. Es ist nicht gut, wenn man Moos ansetzt.
    Danach musste ich mich erst mal wieder erfinden. Ich nahm mir ein billiges Hotelzimmer, das ich mit Amélies Kreditkarte bezahlte, zog Emmas Kleider aus und ging einkaufen.
    Françoise war in puncto Mode eher langweilig: flache Schuhe und die Haare zu einem ordentlichen Knoten frisiert. Meine neue Persona ist da schon ein bisschen anders. Sie heißt Zozie de l’Alba und ist irgendwie Ausländerin, aber man kann nicht so leicht sagen, woher sie stammt. Im Gegensatz zu Françoise ist sie extravagant – sie trägt Glitzerschmuck in den Haaren, liebt grelle Farben und frivole Klamotten, am liebsten kauft sie auf Flohmärkten und in Secondhandläden ein, und man würde sie niemals in flachen Schuhen antreffen.
    Die Verwandlung war ein klarer Schnitt. Als Françoise Lavery betrat ich das Geschäft, in einem grauen Twinset und mit falscher Perlenkette. Zehn Minuten später verließ ich es als eine völlig neue Frau.
    Ein Problem bleibt: wohin? Die Rive gauche ist zwar verlockend, kommt aber leider nicht infrage, obwohl ich glaube, dass Amélie Deauxville noch ein paar Tausender beschaffen kann, ehe ich sie fallen lasse. Ich habe natürlich noch andere Quellen – meine neueste Errungenschaft, Madame Beauchamp, noch gar nicht mitgerechnet.Madame Beauchamp ist zuständig für die Finanzen des Départements , meines früheren Arbeitsplatzes.
    Es ist kinderleicht, ein Konto zu eröffnen. Ein paar bezahlte Stromrechnungen oder ein alter Führerschein – unter Umständen genügt das schon. Und weil man immer mehr online kaufen kann, tun sich sowieso jeden Tag ungeahnte Möglichkeiten auf.
    Aber ich brauche sehr viel mehr als nur eine Einkommensquelle. Langeweile kann ich nicht ausstehen. Ich brauche ein Betätigungsfeld für meine Fähigkeiten, ich brauche Abenteuer, eine Herausforderung, Veränderungen.
    Ein Leben .
    Und das hat mir jetzt, an diesem windigen Morgen Ende Oktober in Montmartre, wie durch Zufall das Schicksal geliefert, als ich in ein Schaufenster blickte und in der Tür des Ladens ein kleines Schild entdeckte, auf dem in säuberlicher Schrift stand:
    Fermé pour cause de décès.
    Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich das letzte Mal hier war. Ich hatte ganz vergessen, wie gut es
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