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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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kurzen Blick auf die Briefe, die so aufdringlich aus dem Briefkasten herausschauten. Es gab eigentlich keinen Grund, das Risiko einzugehen. Aber der kleine Laden lockte mich, wie ein Glitzern zwischen den Pflastersteinen, das sich als Münze, als Ring oder auch nur als ein Fitzelchen Silberpapier herausstellen kann. Ein vielversprechendes Flüstern lag in der Luft. Außerdem war Halloween, der Día de los Muertos , für mich schon immer ein Glückstag, ein Tag der Schlussstriche und der Neuanfänge, ein Tagder ungünstigen Winde und der verstohlenen Gefälligkeiten und der Feuer in der Nacht. Eine Zeit der Geheimnisse, der Wunder – und natürlich der Toten.
    Ich blickte mich kurz um. Niemand beobachtete mich. Ich war mir sicher, dass keiner mitkriegte, wie ich mit einem schnellen Griff die Briefe in die Tasche steckte.
    Der Herbstwind frischte auf, ließ den Staub über den Platz tanzen. Es roch nach Rauch, nicht nach Pariser Rauch, sondern nach dem Rauch meiner Kindheit, an den ich nicht oft denke – es ist der Duft von Weihrauch und Mandelgebäck und Herbstlaub. Auf der Butte de Montmartre gibt es keine Bäume, nur Stein, und die Hochzeitskuchenglasur überdeckt nur knapp den fehlenden Geschmack. Doch der Morgenhimmel wirkte noch spröde und fragil, markiert mit einem komplexen Muster aus Kondensstreifen, wie mystische Symbole im blassen Blau.
    Unter diesen Symbolen entdeckte ich den Maiskolben, das Zeichen des Geschundenen – ein Opfer, ein Geschenk.
    Ich lächelte. Konnte das ein Zufall sein?
    Der Tod – und ein Geschenk. Alles an einem Tag?
    Als ich noch klein war, fuhr meine Mutter mit mir nach Mexiko-Stadt, um die aztekischen Ruinen zu besichtigen und den Día de los Muertos zu feiern. Mir gefiel der theatralische Aspekt, die Blumen und das Pan de muerto, die Lieder und die Totenköpfe aus Zucker. Am allerliebsten mochte ich allerdings die Piñata , diese bunte Tierfigur aus Pappmaschee, die mit Feuerwerkskörpern behängt ist und gefüllt mit Süßigkeiten, Münzen und eingewickelten kleinen Geschenken.
    Man hängt die Piñata in den Türrahmen und traktiert sie mit Stöcken und Steinen, bis sie aufplatzt und die Geschenke herausplumpsen.
    Der Tod und ein Geschenk – alles auf einmal.
    Nein, das konnte kein Zufall sein. Dieser Tag, dieser Laden, dieses Himmelszeichen – es war so, als hätte Mictecacihuatl selbst sie mir geschickt. Meine ganz persönliche Piñata .
    Als ich mich lächelnd abwandte, sah ich, dass mich jemand beobachtete. Ein paar Schritte von mir entfernt stand reglos ein Kind. Ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, in einem knallroten Mantel, mit ausgetretenen braunen Schuhen und strähnigen schwarzen Haaren, die an eine byzantinische Ikone erinnerten. Die Kleine schaute mich mit ausdrucksloser Miene an, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
    Hatte sie gesehen, wie ich die Briefe einsteckte? Ich konnte nicht genau sagen, wie lange sie schon da stand, deshalb schenkte ich ihr einfach mein charmantestes Lächeln und schob das Bündel noch tiefer in meine Manteltasche.
    »Hallo«, sagte ich. »Wie heißt du denn?«
    »Annie«, antwortete sie, ohne mein Lächeln zu erwidern. Ihre Augen hatten eine ganz eigenartige Farbe, irgendwie blau-grüngrau, und ihre Lippen waren so rot, als wären sie geschminkt. Ein verblüffender Anblick im kühlen Morgenlicht; und während ich sie musterte, schien sich das Leuchten in ihren Augen noch zu verstärken, bis sie die Farbe des Herbsthimmels annahmen.
    »Du bist nicht von hier, Annie, stimmt’s?«
    Sie blinzelte kurz. Vielleicht war sie verdutzt, weil ich so etwas merkte. Kinder in Paris reden nicht mit Fremden; das anerzogene Misstrauen sitzt tief. Aber dieses Mädchen war anders – schon sehr vorsichtig, aber nicht abweisend und keineswegs immun gegen eine Charmeoffensive.
    »Woher wissen Sie das?«, fragte sie.
    Erster Treffer. Ich grinste. »Ich höre es an der Art, wie du redest. Woher kommst du? Aus dem Midi ?«
    »Nicht ganz«, sagte sie. Aber jetzt lächelte sie.
    Man erfährt viel, wenn man sich mit Kindern unterhält. Namen, Berufe, die kleinen Details, die für die Verkörperung einer Person unerlässlich sind, weil sie ihr einen authentischen Touch verleihen. Die meisten Leute nehmen als Passwort im Internet den Namen eines Kindes, ihres Ehepartners oder auch eines Haustiers.
    »Müsstest du nicht in der Schule sein, Annie?«
    »Heute nicht.« Sie schaute auf die Tür mit der handgeschriebenen Mitteilung.
    »Wegen Todesfall
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