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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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Wohnung über einer Crêperie. Es gefiel uns dort. Fast wären wir geblieben.
    Aber der Dezemberwind hatte andere Pläne.
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent
    V’là l’bon vent, ma mie m’appelle –
    Dieses Wiegenlied hat mir meine Mutter beigebracht, es ist ein altes Lied, ein Liebeslied, ein Zaubergesang, und ich sang es damals, um den Wind zu besänftigen, um ihn zu überreden, er solle uns dableiben lassen; ich sang es, um das wimmernde Wesen, das ich aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hatte, zum Einschlafen zu bringen, dieses winzig kleine Kind, das weder trank noch schlief, sondern Nacht für Nacht maunzte wie eine Katze, während um uns herum der Wind heulte und schimpfte, wie eine wütende Frau, und jeden Abend sang ich ihn in den Schlaf, nannte ihn guter Wind, schöner Wind , mit den Worten meines Liedes, so wie die einfachen Leute früher die Furien als die Eumeniden und als die Wohlwollenden bezeichneten, in der Hoffnung, so ihrer Rache zu entkommen.
    Verfolgen die Wohlwollenden die Toten?
    Sie fanden uns am Ufer der Loire, und wieder flohen wir. Diesmal nach Paris. Paris, die Stadt meiner Mutter und mein Geburtsort, der einzige Ort, von dem ich mir geschworen hatte, dass wir nie wieder dorthin zurückkehren würden. Aber eine Großstadt schenkt denjenigen, die sie suchen, eine Art Unsichtbarkeit. Wir sind nicht mehr die Papageien unter den Spatzen, nein, jetzt tragen wir die Farben der heimischen Vögel: zu durchschnittlich, zu langweilig, um ein zweites Mal hinzuschauen, falls es überhaupt ein erstes Mal gegeben hat. Meine Mutter war nach New York geflohen, um zu sterben; ich floh nach Paris, um wiedergeboren zu werden. Krank oder gesund? Glücklich oder traurig? Der Stadt ist das egal. Die Stadt muss sich um andere Dinge kümmern. Ohne Fragen zu stellen, geht sie vorbei; geht ihrer Wege und zuckt nicht einmal die Achseln.
    Trotzdem war es ein schweres Jahr. Es war eisig. Das Baby weinte. Wir wohnten in einem kleinen Zimmer, in einer Seitenstraße des Boulevard de la Chapelle, und nachts blinkten die Neonlichter rot und grün, bis man fast verrückt wurde. Ich hätte das regeln können. Ich weiß einen Zauberspruch, um so etwas einfach abzustellen, so wie man das Licht ausmacht, aber ich hatte uns versprochen, Schlussmit der Magie , und deshalb schliefen wir nur sporadisch, zwischen Rot und Grün, und Rosette weinte und schrie ohne Pause bis zum Dreikönigstag (so kam es mir jedenfalls vor), und zum ersten Mal war unser Galette des Rois nicht selbst gemacht, sondern gekauft, und außerdem hatte sowieso niemand Lust zu feiern.
    Wie ich Paris in diesem Jahr hasste! Ich hasste die Kälte, den Dreck und den Gestank; ich hasste die Unhöflichkeit der Pariser, die lauten Züge, die Gewalt, die Aggressivität. Ich begriff schnell, dass Paris gar keine Stadt war, sondern eine Ansammlung von Dörfern: russische Puppen, eine in der anderen, jede mit ihren eigenen Sitten und Vorurteilen, jede mit ihrer Kirche, Moschee, Synagoge, jede voller Heuchelei und Tratsch, mit Einheimischen, Sündenböcken, Versagern, Liebhabern, Angebern und Lachnummern.
    Manche Leute waren nett; zum Beispiel die indische Familie, die sich um Rosette kümmerte, während Anouk und ich auf den Markt gingen, oder der Händler, der uns das angeschlagene Obst und Gemüse von seinem Stand schenkte. Andere waren nicht nett. Die bärtigen Männer, die den Blick abwandten, wenn ich mit Anouk an der Moschee in der Rue Myrrha vorbeiging; die Frauen vor der Église St. Bernard, die mich musterten, als wäre ich Abschaum.
    Seither hat sich vieles verändert. Wir haben endlich den richtigen Ort für uns gefunden. Zu Fuß nicht mal eine halbe Stunde vom Boulevard de la Chapelle entfernt, ist die Place des Faux-Monnayeurs eine ganz andere Welt.
    Montmartre ist ein Dorf, hat meine Mutter immer gesagt, eine Insel, die sich aus dem Pariser Nebel erhebt. Montmartre ist natürlich nicht wie Lansquenet, aber trotzdem ein guter Ort. Wir haben eine kleine Wohnung über dem Laden und eine Küche hinten, ein Zimmer für Rosette und eins für Anouk, unter den Balken mit den Vogelnestern.
    Unsere Chocolaterie war früher ein winziges Café. Es gehörte einer Dame namens Marie-Louise Poussin, die neben uns wohnte. Madame lebte schon zwanzig Jahre hier; sie hatte den Tod ihres Mannes und ihres Sohnes überlebt und war jetzt schon über sechzig und nicht sehr gesund, weigerte sich aber hartnäckig, in den Ruhestandzu gehen. Sie brauchte Hilfe;
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