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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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er, wendet ihm den Rücken zu und schweigt.
    Und der Junge geht nach Hause. Am nächsten Tag findet man ihn, wie er an einem Baum hängt. Die Morgensonne bescheint sein Gesicht, und sein langer, schmaler Schatten fällt auf das Gras zu seinen Füßen.
    Es ist nur eine Geschichte, ich weiß. Aber sie fällt mir immer wieder ein, spät in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann und das Windspiel warnend klimpert, und dann richte ich mich im Bett auf und hebe die Arme, um zu sehen, ob ich einen Schatten auf die Wand werfe.
    Und ich überprüfe jetzt auch immer häufiger Anouks Schatten.

3

    M ITTWOCH , 31 . O KTOBER
    Oh, Mann. Vianne Rocher. Wie kann ich nur so was Blödes sagen? Manchmal verstehe ich mich selbst nicht. Vielleicht habe ich es gesagt, weil sie gelauscht hat und weil ich sauer war. In letzter Zeit bin ich ziemlich oft sauer.
    Vielleicht war es auch wegen der Schuhe. Wegen dieser tollen, leuchtenden Schuhe mit den hohen Absätzen, knallig rot, lippenstiftrot, bonbonrot. Wie Edelsteine funkeln sie auf den Pflastersteinen. Solche Schuhe sieht man in Paris sonst nicht. Jedenfalls nicht an normalen Menschen. Und wir sind normale Menschen, das sagt jedenfalls Maman. Obwohl man es manchmal nicht denken würde, so wie sie sich aufführt.
    Diese Schuhe –
    Klack-klack-klack machten die Bonbonschuhe und blieben direkt vor der Chocolaterie stehen, weil ihre Besitzerin ins Schaufenster guckte.
    Von hinten dachte ich zuerst, ich würde sie kennen. Der knallrote Mantel, passend zu ihren Schuhen. Schwarze Haare, mit einem Tuch zurückgebunden. Hatte sie Glöckchen an ihrem bunt gemusterten Kleid, trug sie ein klimperndes Armband mit Glücksbringern? Und was war das? Dieses seltsame Leuchten hinter ihr, das aussah wie ein Hitzeflirren?
    Der Laden war wegen der Beerdigung geschlossen. Gleich würde die Frau weitergehen. Aber ich wollte unbedingt, dass sie bleibt, und deshalb tat ich etwas, was ich eigentlich nicht tun sollte. Maman denkt ja, ich habe es längst vergessen. Ich habe es auchwirklich schon ewig lang nicht mehr getan. Ich spreizte die Finger hinter ihrem Rücken und machte ein Zeichen in die Luft.
    Ein Hauch von Vanille, Muskatmilch, Kakaobohnen, über schwachem Feuer dunkel geröstet .
    Es ist keine Magie. Wirklich nicht. Es ist nur ein Trick. Ein Spiel, das ich spiele. Richtige Zauberei gibt es nicht, und trotzdem funktioniert es. Jedenfalls manchmal.
    Kannst du mich hören ?, sagte ich. Nicht mit meiner eigenen Stimme, sondern mit der Schattenstimme, ganz leise und leicht, wie Lichttupfer.
    Sie hat es gespürt. Ich weiß es. Als sie sich umdrehte, erstarrte sie; ich ließ die Tür ein bisschen aufleuchten, ganz minimal, hellblau wie der Himmel. Spielte damit, sehr hübsch, als würde die Tür die Sonne spiegeln und ihr Gesicht anstrahlen.
    Rauchiger Duft in einer Tasse, ein Spritzer Sahne, eine Prise Zucker. Bitterorange, die du so magst, dunkle Schokolade, siebzig Prozent, und grob geschnittene Orangen aus Sevilla. Nimm mich. Iss mich. Genieß mich .
    Sie drehte sich um. Ich wusste es schon vorher. Schien sich zu wundern, als sie mich sah, lächelte aber trotzdem. Ich sah ihr Gesicht – blaue Augen, ein breites Lächeln, Sommersprossen auf dem Nasenrücken –, und ich mochte sie sofort, ich mochte sie sehr, so wie ich Roux gleich mochte, als ich ihn das erste Mal gesehen habe.
    Und dann fragte sie mich, wer gestorben sei.
    Ich konnte nicht anders. Vielleicht war es wegen der Schuhe; vielleicht, weil ich wusste, dass Maman hinter der Tür stand. Auf jeden Fall kam es einfach aus mir heraus, wie das Licht auf der Tür und der Rauchduft.
    Ich sagte »Vianne Rocher«, ein bisschen zu laut, und kaum hatte ich es gesagt, da erschien auch schon Maman, in ihrem schwarzen Mantel, mit Rosette auf dem Arm und mit diesem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck, so wie sie immer guckt, wenn ich mich danebenbenehme oder wenn Rosette einen ihrer Unfälle hat.
    »Annie!«
    Die Dame mit den roten Schuhen blickte von ihr zu mir und dann wieder zu meiner Mutter.
    »Madame … Rocher?«
    Maman erholte sich schnell. »Das war mein … Mädchenname«, sagte sie. »Jetzt heiße ich Madame Charbonneau. Yanne Charbonneau.« Sie warf mir wieder diesen typischen Blick zu. »Meine Tochter macht manchmal Witze«, sagte sie zu der Dame. »Ich hoffe, sie hat Sie nicht belästigt?«
    Die Dame lachte laut und herzlich, bis in die Sohlen ihrer roten Schuhe. »Nein, überhaupt nicht«, sagte sie. »Ich habe gerade Ihren wunderschönen
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