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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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wetten. Ein Mensch, der das Leben ernst nimmt, würde keine solchen Schuhe anziehen. Ich bin mir sicher, dass ich sie genau deswegen gleich so nett fand. Ihre roten Schuhe und die Art, wie sie vor dem Schaufenster stehen blieb – da wusste ich sofort, dass sie Pantoufle sehen kann und nicht nur einen Schatten an meinen Fersen.

4

    M ITTWOCH , 31 . O KTOBER
    Ich bilde mir ein, dass ich gut mit Kindern umgehen kann. Mit Eltern ebenfalls. Das gehört zu meinem Charme, zu meinem Zauber. Ohne ein gewisses Maß an Charme kann man nicht im Geschäft bleiben, das muss man wissen, und bei meinem Beruf ist das erstrebte Ziel wesentlich persönlicher als der konkret greifbare Besitz, und deshalb ist es entscheidend, dass man zu dem Leben, das man übernimmt, direkten Kontakt findet.
    Nicht, dass mich das Leben dieser Frau besonders interessiert hätte. Anfangs jedenfalls nicht – obwohl ich zugeben muss, dass ich gleich neugierig wurde. Nicht wegen der Verstorbenen. Auch nicht wegen des Ladens – er ist zwar sehr hübsch, allerdings viel zu klein, und für jemanden mit meinen ehrgeizigen Plänen eher einengend. Aber die Frau selbst faszinierte mich – und das Mädchen.
    Glauben Sie an die Liebe auf den ersten Blick?
    Dachte ich mir’s doch, dass Sie nicht dran glauben. Ich auch nicht. Und trotzdem –
    Die Farben, die durch die halb offene Tür schimmerten! Diese irritierenden Hinweise auf gewisse Dinge, die man halb sieht und halb ahnt. Der Klang des Windspiels über dem Eingang. All das weckte zuerst mein Interesse und dann meinen Sammeltrieb.
    Ich bin keine Diebin, muss man wissen. Zuerst und vor allem bin ich Sammlerin. Ich sammle seit meinem neunten Lebensjahr, ich sammelte Glücksbringer für mein Armband, aber jetzt sammle ich Individuen, ihre Namen, ihre Geheimnisse, ihre Geschichten, ihr Leben. Manchmal tue ich es aus Profitgründen, klar. Aber ammeisten Spaß macht mir die Jagd. Ich liebe die Spannung der Verführung, des Kampfes. Und den Moment, in dem die Piñata aufplatzt.
    Den Moment liebe ich am allermeisten.
    »Kinder«, sagte ich mit einem verständnisvollen Lächeln.
    Die Frau seufzte. »Sie wachsen so schnell. Ein Wimpernschlag, und schon sind sie weg.« Das Mädchen rannte immer noch die Gasse hinunter. »Nicht so weit!«, rief Yanne.
    »Sie wird nicht zu weit gehen.«
    Yanne sieht aus wie eine zahmere Version ihrer Tochter. Schwarze Haare, mit Pony, gerade Brauen, Augen wie zartbittere Schokolade. Die gleichen roten, trotzigen, vollen Lippen und Mundwinkel, die leicht nach oben gehen. Das gleiche irgendwie exotische Äußere, obwohl ich außer dem ersten Farbleuchten hinter der halb offenen Tür nichts sehen konnte, was diesen Eindruck bestätigt hätte. Sie hat keinen Akzent, trägt abgetragene Sachen von La Redoute , eine schlichte schwarze Baskenmütze, ein bisschen schief auf dem Kopf, bequeme Schuhe.
    An den Schuhen kann man sehr viel über einen Menschen ablesen. Ihre waren sorgfältig ausgewählt, ohne jeden Firlefanz, schwarz, vorne rund und betont unauffällig, wie die Schuhe, die ihre Tochter in der Schule trägt. Überhaupt war ihre ganze Erscheinung ein bisschen bieder, eine Spur zu farblos, ohne jeden Schmuck, außer einem schlichten Goldring; gerade genug Makeup, damit es nicht so wirkt, als wolle sie ein Statement abgeben, indem sie sich gar nicht schminkt.
    Das Kind auf ihrem Arm ist höchstens drei, würde ich schätzen. Die gleichen wachsamen Augen wie die Mutter, aber ihre Haare sind so orangerot wie ein frischer Kürbis, und ihr kleines Gesichtchen, nicht größer als ein Gänseei, besteht hauptsächlich aus apricotfarbenen Sommersprossen. Eine ganz normale kleine Familie, zumindest an der Oberfläche, und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass da etwas ist, was ich nicht richtig sehen kann, eine subtile Illumination, ähnlich wie bei mir.
    Ja, dann würde sich die Mühe natürlich lohnen.
    Die Frau schaute auf die Uhr. »Annie!«, rief sie.
    Am Ende der Straße fuchtelte Annie mit den Armen. Eine Geste, die sowohl Übermut als auch Rebellion signalisieren konnte. Der schmetterlingsblaue Schimmerglanz, der ihr folgt, bestärkt mich in meiner Annahme, dass sie etwas verbirgt. Die Kleine hat jedenfalls mehr als nur einen Hauch von Illumination, und was die Mutter betrifft –
    »Sie sind verheiratet?«, fragte ich.
    »Ich bin verwitwet«, antwortete sie. »Seit drei Jahren. Bevor ich hierhergezogen bin.«
    »Tatsächlich«, sagte ich.
    Ich glaube ihr nicht. Um Witwe zu
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