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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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Bequemlichkeit als auf Tempo ausgerichtet, und es hat eine altmodische Form, weniger elegant als seine Nachbarn, aus stabilem Holz und nicht aus dem moderneren Fiberglas.
    Und doch springt einem Roux’ Boot sofort ins Auge. Selbst von weitem hat es etwas Bestechendes: die Form, der bunte Rumpf, die vielen Topfpflanzen auf dem Heck, das Glasdach, durch das man den Sternenhimmel sehen kann …
    »Das ist dein Boot?«, fragt Anouk atemlos.
    »Gefällt es dir? Aber das ist immer noch nicht alles. Wartet hier«, sagt Roux und rennt die Stufen hinunter zu dem Boot.
    Einen Moment lang ist er verschwunden. Dann flammt ein Streichholz auf. Eine Kerze wird angezündet. Die Flamme bewegt sich, und das Boot erwacht zum Leben: Schon bald brennen Kerzen an Deck, auf dem Dach, auf allen Schwellen und Vorsprüngen, vom Heck bis zum Bug. Dutzende oder vielleicht sogar Hunderte von Kerzen leuchten in Marmeladengläsern, auf Untertassen, in Blechdosen und Blumentöpfen, bis Roux’ Boot aussieht wie eine Geburtstagstorte. Jetzt sehen wir, was wir vorher nicht sehen konnten: die Markise, das Schaufenster, das Schild auf dem Dach …
    Er winkt uns mit ausholender Gebärde zu sich. Anouk rennt nicht los, sondern hält meine Hand fest. Ich spüre, wie sie zittert, und es wundert mich nicht, als ich Pantoufle bei unseren Füßen sehe – und ist da nicht noch etwas, ein hüpfendes Wesen mit einem langen Schwanz, das frech mit Pantoufle Schritt hält?
    »Und – gefällt es euch?«, fragt Roux.
    Einen Augenblick genügen uns schon die brennenden Kerzen, ein kleines Wunder, das sich in tausend kleinen Lichtpunkten in der stillen Wasseroberfläche widerspiegelt. Und in Rosettes Augen. Und Anouk, die mich immer noch an der Hand hält, stößt einen langen, genüsslichen Seufzer aus.
    Michèle sagt: »Es ist wunderschön.«
    Wie recht sie hat! Aber da ist noch mehr –
    »Es ist eine Chocolaterie , oder?«
    Ich sehe es ja sowieso. An dem Schild über der Tür (auf dem noch nichts steht) und an dem kleinen Schaufenster, das mit lauter Nachtlichtern erhellt ist, kann ich sehen, was daraus werden soll. Ich kann mir vorstellen, wie lange er gebraucht hat, um dieses kleine Wunder zu vollbringen – wie viel Zeit, Mühe und Liebe so ein Vorhaben kostet –
    Er beobachtet mich, die Hände in den Taschen. In seinen Augen entdecke ich eine leise Nervosität.
    »Ich habe es als Wrack gekauft«, erklärt er. »Ich habe es trocken gelegt und repariert. Und seither arbeite ich daran. Fast vier Jahre lang habe ich gebraucht, um es abzubezahlen. Aber ich habe immer gedacht, eines Tages –«
    Meine Lippen auf seinem Mund zwingen ihn, den Satz zu unterbrechen. Und überall um uns herum brennen die Kerzen, und Paris leuchtet im Schnee, und die letzten Feuerwerkskörper verglühen jenseits der Place de la Bastille und –
    »Oh, Mann. Ihr zwei! Nehmt euch ein Zimmer«, brummelt Anouk.
    Wir haben beide nicht genug Luft, um zu antworten.
    Unter dem Pont Morland ist es still. Wir schauen zu, wie die Kerzen herunterbrennen. Michèle schläft in der einen Koje, Rosette und Anouk teilen sich die andere, zugedeckt mit Anouks rotem Umhang, während Pantoufle und Bam sie vor bösen Träumen beschützen.
    Von unserer Kajüte aus sehen wir durch das Glasdach den weiten Himmel, der sich über uns spannt, geheimnisvoll mit seinen unzähligen Sternen. Wir hören in der Ferne das Rauschen des Verkehrs von der Place de la Bastille. Es klingt fast wie die Brandung an einem einsamen Strand.
    Ich weiß, es ist nur billige Alltagsmagie. Jeanne Rocher wäre nicht einverstanden gewesen. Aber es ist unsere Magie, meine und seine, und er schmeckt nach Schokolade und Champagner, und schließlich ziehen wir unsere Kleider aus und liegen eng umschlungen unter der Sternendecke.
    Vom anderen Ufer weht Musik zu uns herüber, eine Melodie, die ich fast erkenne.
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent  –
    Man spürt keinen Windhauch.

E PILOG
    D IENSTAG , 25 . D EZEMBER
    Ein neuer Tag, ein neues Geschenk. Eine neue Stadt breitet die Arme aus. Paris war sowieso schon ein bisschen öde, und ich liebe New York um diese Jahreszeit. Schade um Anouk. Na ja, verbuchen wir es unter interessante Erfahrung.
    Was ihre Mutter betrifft – nun, sie hatte ihre Chance. Wahrscheinlich muss sie sich kurzfristig mit kleineren Unannehmlichkeiten herumschlagen. Vor allem, weil Thierry garantiert auf seiner Anzeige wegen Betrugs beharrt. Ob er damit allerdings Erfolg haben wird, kann ich nicht
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