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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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EZEMBER
    Heiligabend, 23 Uhr 30
    Du willst es also wirklich wissen, Anouk?
    Soll ich dir sagen, was ich gesehen habe?
    Was hatte ich erwartet? Süßigkeiten, wahrscheinlich, Bonbons, Lutscher, Totenköpfe aus Schokolade, Halsketten aus Zuckerzähnen, den ganzen Kram, der zum Tag der Toten gehört. Hatte ich erwartet, dass all das aus der schwarzen Piñata herausregnen würde, wie dunkles Konfetti?
    Oder hatte ich mit etwas anderem gerechnet, mit einer okkulten Offenbarung, mit dem Lichtstrahl Gottes, einem kurzen Blick ins Jenseits, vielleicht mit einer Bestätigung, dass die Toten noch unter uns sind, Gäste an unserer Tafel, unruhige Schläfer, Wächter eines elementaren Mysteriums, das sich eines Tages auch uns anderen enthüllen wird?
    Ist es nicht das, was wir uns wünschen, wir alle? Zu glauben, dass Christus von den Toten auferstanden ist, dass die Engel uns beschützen, dass Fisch am Freitag manchmal fromm ist und dann wieder eine Todsünde, dass es wichtig ist, wenn ein Spatz zur Erde fällt und der eine oder andere Turm einstürzt, oder wenn ein ganzes Volk ausgelöscht wird im Namen irgendeiner trügerischen Gottheit, die kaum zu unterscheiden ist von einer ganzen Serie einzig wahrer Götter – ha! Herr, was für Narren diese Sterblichen doch sind, und der Witz dabei ist, dass wir samt und sonders Narren sind, sogar für die Götter, denn trotz der Millionen Menschen, die in ihrem Namen abgeschlachtet wurden, trotz aller Gebete und Opfer und Kriege und Offenbarungen: Wer erinnert sich heutewirklich noch an die alten Gottheiten – an Tlaloc und Coatlicue und Quetzacoatl und an die gierige alte Mictecacihuatl höchstpersönlich? Ihre Tempel sind zu Kulturdenkmälern verkommen, die Steine sind umgestürzt, ihre Pyramiden überwuchert, verloren im Gang der Geschichte.
    Und was interessiert es uns schon, Anouk, ob in hundert Jahren aus Sacré Cœur eine Moschee wurde oder eine Synagoge oder etwas ganz anderes? Denn bis dahin werden wir alle wieder zu Staub geworden sein, außer dem Einen, der ewig währet, der Eine, der Pyramiden baut, Tempel errichtet, Märtyrer schafft, erhabene Musik komponiert, die Logik verleugnet, die Schwachen preist, die Seelen im Paradies empfängt, der Eine, der diktiert, was man tragen soll, der den Treulosen heimsucht, die Sixtinische Kapelle ausmalt, junge Männer antreibt, für die gerechte Sache zu kämpfen, Spielleute mit einer Fernbedienung in die Luft jagt, der viel verspricht und wenig abliefert, der keinen fürchtet und niemals stirbt, weil die Angst vor dem Tod so viel größer ist als Ehre oder Güte oder Glaube oder Liebe …
    Aber zurück zu deiner Frage. Was wolltest du wissen?
    Ach ja, die schwarze Piñata .
    Du glaubst, ich habe darin die Antwort gefunden?
    Tut mir leid, Schätzchen. Überleg noch mal.
    Du möchtest wissen, was ich gesehen habe?
    Nichts. Ja, genau. Nichts, nada, niente .
    Keine Antworten, keine Gewissheiten, keine Vergeltung, keine Wahrheit. Nur Luft. Nichts als Luft kam aus der schwarzen Piñata , ein Schwall modriger Luft, wie der Morgenatem nach tausendjährigem Schlaf.
    »Das Schlimmste überhaupt ist das Nichts, Anouk. Keine Aussage, keine Botschaft, keine Dämonen, keine Götter. Wir sterben – und da ist nichts. Gar nichts.«
    Sie betrachtet mich mit ihren dunklen Augen.
    »Du irrst dich«, sagt sie. »Es gibt etwas.«
    »Was denn? Denkst du wirklich, du hast etwas? Überleg doch noch mal. Das Pralinengeschäft? Thierry wirft euch an Osternraus. Wie alle eitlen Männer ist er rachsüchtig. In weniger als vier Monaten könnt ihr wieder bei Null anfangen, ihr drei, ohne einen Cent, ohne eine Bleibe.
    Du denkst, du hast Vianne? Auch das stimmt nicht, und du weißt es. Sie hat nicht den Mut, sie selbst zu sein, und sie traut sich erst recht nicht, deine Mutter zu sein. Du denkst, du hast Roux? Darauf würde ich mich an deiner Stelle lieber nicht verlassen. Er ist der größte Lügner von allen. Frag ihn doch mal nach seinem Boot, Anouk. Sag ihm, er soll dir sein sagenhaftes Boot zeigen –«
    Aber sie entgleitet mir, das spüre ich. Sie schaut mich an, ohne jede Angst im Blick. Stattdessen ist da etwas anderes, das ich nicht recht deuten kann –
    Mitleid? Nein, das würde sie nicht wagen .
    »Es muss sehr einsam sein, Zozie.«
    »Einsam?«, fauchte ich.
    »Es ist bestimmt sehr einsam, du zu sein.«
    Ich stieß einen stummen Wutschrei aus. Das ist der Jagdruf des Jaguars, des Schwarzen Tezcatlipoca in seiner grausigsten Eigenschaft. Aber
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