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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder
Autoren: Joanne Harris
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antworteten, dann kam dieser Blick, dieser geringschätzige Blick, mit dem sie unsere abgetragenen Kleider registrierten und unseren einzigen Koffer und die Flüchtlingsaura, die einen umgibt, wenn man sich auf zu vielen Bahnhöfen aufhält und in zu vielen Hotelzimmern schläft, die man ohne eine Spur wieder verlassen hat.
    Ach, wie habe ich mich danach gesehnt, endlich frei zu sein! So frei wie nie zuvor. Und die Möglichkeit zu haben, an einem Ort zu bleiben, den Wind zu spüren und seinen Ruf zu ignorieren.
    Aber sosehr wir uns bemühten, die Gerüchte holten uns immerwieder ein. Es habe irgendeinen Skandal gegeben, wurde geflüstert. Ein Priester sei beteiligt gewesen, hatte jemand gehört. Und die Frau? Eine Zigeunerin, die sich mit den Leuten vom Fluss eingelassen hat und behauptet, eine Heilerin zu sein und sich mit Kräutern auszukennen. Und jemand sei gestorben, hieß es – vergiftet, vielleicht, oder einfach nur so.
    Aber das war sowieso egal. Die Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, sie ließen uns stolpern, sie attackierten uns, schnappten nach unseren Fersen, und langsam begann ich zu begreifen.
    Irgendetwas war unterwegs geschehen. Etwas, das uns verändert hatte. Vielleicht waren wir einen Tag oder eine Woche zu lange in einem dieser Dörfer geblieben. Etwas war anders. Die Schatten waren länger geworden. Wir rannten los.
    Wovor rannten wir davon? Ich wusste es damals nicht, aber ich konnte es an meinem Abbild sehen, in den Hotelzimmerspiegeln und in den Schaufensterscheiben. Ich hatte immer rote Schuhe getragen; indische Röcke mit Glöckchen am Saum, Secondhandmäntel mit Gänseblümchen auf den Taschen, Jeans, die mit Blumen und Blättern bestickt waren. Jetzt versuchte ich, mich anzupassen, nicht mehr aufzufallen. Schwarze Mäntel, schwarze Schuhe, eine schwarze Baskenmütze auf meinen schwarzen Haaren.
    Anouk verstand gar nichts mehr. »Warum sind wir diesmal nicht geblieben?«
    Der ewig gleiche Refrain. Ich fürchtete mich schließlich sogar vor dem Namen des Ortes, vor den Erinnerungen, die wie Kletten an unseren Reisekleidern hingen. Immer zogen wir weiter, mit dem Wind. Und abends lagen wir nebeneinander in irgendeinem Zimmer über einem Café, oder wir kochten Schokolade auf einem Campingkocher, oder wir zündeten Kerzen an, machten Schattenbilder an der Wand und erzählten tolle Geschichten voller Magie, Geschichten von Hexen und Lebkuchenhäuschen und von dunklen Männern, die sich in Wölfe verwandelten und manchmal nicht zurückkehrten.
    Aber inzwischen waren das nur noch Geschichten. Die wahre Magie – die Magie, die wir unser ganzes Leben lang gelebt hatten,der Zauber meiner Mutter mit den Sprüchen und Formeln, mit dem Salz auf der Türschwelle, das die kleinen Götter gnädig stimmen soll –, diese Magie hatte sich in diesem Sommer irgendwie abgenutzt, sich verwandelt, wie eine Spinne, die Schlag Mitternacht vom Glücksbringer zum Unglücksboten wird und ihre Netze spinnt, um unsere Träume zu fangen. Und bei jedem kleinen Zauberspruch oder Fluch, bei jeder Karte, die wir legten, bei jeder Rune, die geworfen wurde, und bei jedem Zeichen, das man in eine Tür ritzte, um dem Unheil zu wehren, blies der Wind nur noch stärker, zerrte an unseren Kleidern, schnupperte an uns wie ein hungriger Hund, trieb uns hierhin, trieb uns dorthin.
    Wir rannten vor ihm weg: Wir pflückten Kirschen, wenn sie reif waren, und Äpfel, wenn sie reif waren, wir arbeiteten den Rest der Zeit in Cafés und Restaurants, sparten unser Geld und gaben uns in jeder Stadt einen anderen Namen. Wir wurden vorsichtig. Uns blieb nichts anderes übrig. Wir fielen nicht auf. Wir versteckten uns, wie Moorhühner im Schilf. Wir flogen nicht, wir sangen nicht.
    Und nach und nach wurden die Tarotkarten beiseite gelegt, die Kräuter wurden nicht mehr verwendet, die besonderen Tage gingen ohne Feierlichkeiten vorüber, der Mond nahm unbemerkt zu und wieder ab, und die Zeichen, die wir als Glücksbringer in unsere Handflächen gemalt hatten, verblassten und wurden weggewaschen.
    Es war eine recht friedliche Zeit. Wir blieben in der Stadt, ich fand eine Unterkunft für uns, ich schaute mir Schulen und Krankenhäuser an. Auf dem Flohmarkt kaufte ich einen billigen Ehering und nannte mich Madame Rocher.
    Und dann kam im Dezember Rosette zur Welt, in einem Krankenhaus am Stadtrand von Rennes. Wir hatten einen Ort gefunden, wo wir eine Weile bleiben konnten, Les Laveuses, ein Dorf an der Loire. Wir mieteten eine
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